Die bAV muss sich im Umfeld von Hoch-Inflation, Regulierungswellen und Gesetzgebung behaupten. LbAV-Autor Detlef Pohl war auch am zweiten Tag der neulichen HB-bAV-Tagung in Berlin dabei – und hörte von knackigen Rentenanpassungen, vielen Rechtsbaustellen, zu frühen Evaluierungen und Baby-Boomern, die wirklich kommen: Mit leichterer Kost für die bAV ist nicht zu rechnen.
Wegen der Inhaltsdichte dokumentiert LEITERbAV Impressionen vom zweiten Tag der hybriden HB-Tagung, dem 16. November, erneut im typischen LbAV-Stakkato, der Redaktion und Leserschaft gleichermaßen schont (sämtliche Aussagen im Indikativ der Referenten).
Krönung: Inflationsfestigkeit als Faktor für Neuordnung von Versorgungssystemen
Auswirkungen für Arbeitgeber, EbAV und Berechtigte beleuchtet Rafael Krönung, CEO Aon Wealth, Deutschland:
+++ Inflationsrate in EU auf über 10%, höchster Stand seit 1951 +++ Inflationserwartungen für mittlere Duration typischer Pensionsverpflichtungen: 2,6-2,7% (Inflation-Swaps) +++ Inflation-Swaps in Verbindung mit EZB-Langfristziel (2,0%) abhängig von Duration: 2,2% bei 24,6 Jahren, 2,5% bei 12,2 Jahren (Stand 31. Oktober) +++ Folge für Unternehmen: höherer Liquiditätsabfluss durch Rentenanpassungen sowie bilanzielle Effekte bzw. Aufwandssteigerungen durch Änderungen bei Bewertungsparametern +++
„Zum Stichtag 1. Juli war eine bAV-Rentenanpassung nach VPI von 11,1% nötig, im nächsten Sommer 19% und 2024 sogar 20,4%“
+++ Beispiel Rentenanpassungen im 3-Jahresrhythmus (Anpassungsart und -umfang abhängig von Zusagetyp und Durchführungsweg): zum Stichtag 1. Juli war bAV-Rentenanpassung nach Verbraucherpreisindex (VPI) von 11,1% nötig (2022), im nächsten Sommer 19,0% und 2024 sogar 20,4% +++ Verpflichtungsumfang steigt wegen zu erwartender Erhöhungen bei Annahmen zum Rententrend in diesjährigen Jahresabschlüssen um 2-4% +++ aktuell Überkompensation durch Zinsentwicklung nach IFRS, aber nach HGB keine Entlastung durch Rechnungszins (höhere Rentenanpassungen in Kombination mit leicht sinkendem Rechnungszins) +++
+++ Folge für HEUTIGE Arbeitnehmer: weniger Realeinkommen, Entwertung der bAV, aber je nach Zusageart evtl. Werterhalt bei Rentnern +++ Wert der bAV-Anwartschaften sinkt, da keine VPI-Anpasssung für Anwärter (ggf. Kompensation durch höheres Gehalt) +++ kapitalmarkt-orientierte Zusagen wirken Inflation möglicherweise durch höhere Anlageerträge entgegen +++ Garantiemodelle gehören bei Inflation noch mehr auf Prüfstand, da Garantieleistungen ohne entsprechend hohe Überschüsse zunehmend unattraktiv +++ Entgeltumwandlung: immer öfter Reduzierung bzw. Aussetzung gewünscht wegen gesunkenem Realeinkommen +++
+++ Empfehlung für bAV-Verantwortliche: Inflationskosten identifizieren und frühzeitig Bewertungsparameter für Jahresabschlüsse abstimmen +++ danach Inflations-Check für Versorgungssysteme +++ Inflationsfestigkeit als Faktor für künftige Neuordnungen von Versorgungssystemen berücksichtigen +++ Rentenanpassung gemäß Nettolohnentwicklung aktuell stark nachgefragt, aber in der Praxis nicht umsetzbar +++ zumeist auch nicht vorteilhaft, da für Anpassungsprüfung nicht nur auf 3-Jahreszeitraum, sondern auf Zeit ab jeweiligem Rentenbeginn abzustellen ist +++ Politik muss Generationengerechtigkeit bei bAV in Blick nehmen, da aktuelle Rentenanpassungen Mittel für Leistungsbezieher binden, die dann möglicherweise für Anwärter fehlen +++
Görgen: Im Frühjahr startet die Gesetzgebung
Ergebnisse des angestoßenen bAV-Fachdialoges werden Mitte 2023 in Gesetzgebung münden, prognostiziert Peter Görgen, Referatsleiter Zusätzliche AV im BMAS und nunmehr 20 Jahre im Ministerium tätig:
+++ aktuelle „Baustelle“: Abschaffung Hinzuverdienstgrenzen für Frührentner in GRV ab 1. Januar 23 geplant (Entwurf SGB-Änderungsgesetz am 30. Novembrer zur Anhörung im Bundestag) +++ Auswirkung auf bAV: § 6 BetrAVG anzupassen, um künftig auch ungekürzten bAV-Anspruch bei gesetzlicher Teilrente zu sichern +++ Folgeänderungen auch in VAG angebracht für Pensionskassen, um Ersatz wegfallenden Erwerbseinkommens nicht mehr so restriktiv auszulegen +++
+++ EU-Regulierung berührt bAV auch auf abstruse Weise +++ Beispiel: „Anti-Entwaldungs-Verordnung” (Regulation on deforestation-free products) +++ auch Finanzdienstleister aufgenommen und insb. Pensionskassen betroffen +++ Hintergrund: Finanzdienstleister dürften nur tätig werden, wenn kein oder nur vernachlässigbares Risiko, dass betreffende Dienstleistungen direkt oder indirekt zu Entwaldung, Waldschädigung oder Waldumwandlung führt +++ aktuell im Trilog +++ BMAS will Finanzdienstleister da raushaben, aber aktuell alles noch offen +++
+++ Fachdialog zur bAV: inzwischen alle Stellungnahmen eingegangen +++ nach Sichtung kommen Diskussionen nach Schwerpunkten und in kleineren Kreisen +++ am Ende folgt wahrscheinlich große Runde und im Frühjahr 2023 Start des Gesetzgebungsverfahrens +++ Stichworte zu Fachdialog-Themen betreffen Verbesserungen in Arbeits-, Aufsichts- und Steuerrecht zugunsten bAV +++
+++ Konkret im Arbeitsrecht: Umfang der Arbeitgeberhaftung/Beitragsgarantie, Generationengerechtigkeit/Eingriffsmöglichkeiten in bestehende Zusagen, Rentabilität/Kosten bei Entgeltumwandlung, weniger Komplexität und mehr Transparenz +++
+++Konkret im Aufsichtsrecht: Anlagemöglichkeiten mit höheren Renditen, mehr Flexibilität für Pensionskassen bei Bedeckung, nachhaltige Anlageformen/ESG-Kriterien +++
+++ Konkret im Steuerrecht: Optimierung Geringverdienerförderung +++
+++ zudem Sozialpartnermodell auf Agenda: erleichterte Nutzung durch Nichttarifgebundene, Auszahlungsmodalitäten, aufsichtsrechtlicher Rahmen/Abgrenzung zum Arbeitsrecht, spezifische steuerliche Förderung +++
+++ „Sonstiges“ bei Fachdialog: Arbeitsgerichtsverfahren, § 6a EStG, „Doppelverbeitragung“ GKV +++
Jargstorff: Erfolg der Kapitalanlage das eine, exzellenter „Member-Service“ aber das andere
In der bAV-Administration ist ein Perspektivwechsel angebracht, meint Dirk Jargstorff, Leiter Betriebliche Versorgungsleistungen Robert Bosch GmbH und Chef des Bosch Pensionsfonds:
+++ Praxisbericht: wie angestaubter Rentenservice sukzessive unter Berücksichtigung ständig steigender Digitalkompetenz der Versorgungsberechtigten und Rentner weiterentwickelt wird +++ Bosch verzeichnet 47% mehr Neurentner seit 2018 +++ „Babyboomer kommen wirklich“ +++
+++ schon in letzten Jahren Arbeitsaufkommen in bAV-Administration stark gestiegen +++ Erfolg der Kapitalanlage fundamental, exzellenter „Member-Service“ aber auch +++ Employee Experience enorm wichtig für Wertbeitrag von HR im Unternehmen +++ Erwartungen der Begünstigten und deren Digitalkompetenz steigen +++ es droht Reputationsverlust bei wichtigsten Stakeholdern, wenn nicht auch bAV-Administration exzellent funktioniert +++
+++ beim Bosch-Vorsorgeplan dieser Perspektivwechsel eingeläutet: Setzen von Thema über Prozess und Schnittstelle für Begünstigte zur Kommunikation und Interaktion war gestern +++ heute muss es umgekehrt laufen, Kommunikation und Interaktion sind Ausgangspunkt und „Moments of Truth“, in denen es zu entscheidenden Kontakten kommt +++ Member-Service im Spannungsfeld zwischen hoher Kundenzufriedenheit und effizienter Umsetzung, „müssen sich ergänzen und nicht widersprechen“ +++ wichtige Elemente: Employee Experience, Innovation Lab – Operations – Communication, Servicekultur, Reporting und Transparenz, offene Fehlerkultur +++ nicht minder wichtig: agile Zusammenarbeit und gemeinsame Lenkung, effektives Projektmanagement, Expertenservice, kontinuierliche Verbesserung sowie resiliente Administration (störanfällig auch wegen Home Office) +++ Kommunikation und Aufgabensteuerung noch besser auf absehbare Renteneintritte zuzuschneiden +++
+++ Nachweisgesetz hilft nicht gerade bei bAV-Digitalisierung +++ Verpflichtung des Arbeitgebers, Arbeitnehmer schriftlich über vereinbarte wesentliche Vertragsbedingungen zu informieren, ist Rückschritt bei Digitalisierung, auch in bAV +++ Beispiel Bosch: digitales Portal mit zeitnaher, einfacher, ständiger und moderner Kundenkommunikation nutzen fast 100.000 Mitarbeiter (von 140.000) +++ damit der geplanten digitalen Rentenübersicht als Schnittstelle technisch ein Stück voraus +++
+++ sein Fazit: exzellenter Member-Service ist erfolgskritisch +++ darf nicht hinter andere Services zurückfallen +++ organisatorisch IT nahebringen +++ Member-Service bedeutet konsequente, digitale Ausrichtung Prozesse auf die Begünstigten – Kostenfokus dabei kein Widerspruch +++ Member-Service fußt auf Geschwindigkeit, Transparenz und kontinuierlicher Verbesserung – auch durch permanentes Kundenfeedback +++
Röhle: IORP-II guter Rechtsrahmen – mit Chance auf sinnvolle Weiterentwicklung
Die Regulierung geht auch auf EU-Ebene weiter, berichtet Christian Röhle, Leiter Pensionskassenmanagement & Recht Hoechster Pensionskasse:
+++ Beispiel: Call for Advice (CfA) der EU-Kommission zur IORP-II-Richtlinie +++ für EbAV sind seit langem EU-weite aufsichtsrechtliche Mindeststandards definiert (Tätigkeit und Beaufsichtigung) +++ auf aktuelle Standards setzt von Zeit zu Zeit spezifisches Beratungsersuchen der EU-Kommission auf +++ Bitte an EIOPA um Auskünfte zu konkreten Fragestellungen, die im Beratungsersuchen spezifiziert werden (= Call for Advice) +++
+++ Antwort der Aufsichtsbehörde in Form eines „Advice-Dokumentes“ – regelmäßig nach (öffentlicher) Konsultation von Stakeholdern +++ aktueller Anlass für CfA: ursprünglich sollte schon bis 13. Januar EU-Kommission Wirksamkeit der EbAV-II-RL überprüfen und EU-Parlament Bericht vorlegen +++ Überprüfung bezieht sich auf Angemessenheit, grenzübergreifende Tätigkeit, Erfahrungen und Auswirkungen auf Stabilität von EbAV, Leistungs- und Renteninformationen +++ Renteninformation soll neu gefasst werden („adäquate Funktion der Renten-Info“) +++ EU-Kommission fürchtet auch Erosion von AN-Schutzrechten durch vielfachen Wechsel von DB auf DC mit Verlagerung des Investmentrisikos vom AG auf AN +++ EIOPA soll dazu auf bereits erledigte Arbeiten (DC-Schemes) aufbauen +++
+++ dabei auch Implikationen der EU-Strategie zur Finanzierung nachhaltiger Wirtschaft +++ drei Themen: 1. Prüfung von Nachhaltigkeitsaspekten in Bezug auf treuhänderische Pflichten von IORPs/EbAV +++ 2. Prüfung, ob Ansatz der RL, wonach Vermögenswerte zum größtmöglichen und langfristigen Nutzen der Versorgungsanwärter und Leistungsempfänger anzulegen sind, erweitert werden müssen +++ 3. mögliche Integration „doppelter Wesentlichkeit“, die neben den genannten Zielen auch gesellschaftliche und ökologische Aspekte umfasst +++ weiteres Thema: Diversität und Inklusion in Leitungsorganen +++
+++ EIOPA-Brief an EU-Institutionen im April, hier ggf. Anpassungen in Richtlinie vorzunehmen +++ in diesem Kontext relevante Themen: Verhältnis zu Proportionalitätsgrundsatz, paritätische Besetzung von EbAV-Führungspositionen, Verhältnis zu „fit and proper“ +++
+++ aktueller Zeitplan in Bezug auf Deutschland: Umfrage bei BaFin läuft +++ 03-06/23: Öffentliche Konsultation durch EIOPA (Stakeholder-Diskurs) +++ ursprünglich 07/23 (verschoben auf 10/23): finales Advice-Dokument von EIOPA an EU-Kommission +++
+++ sein Fazit: bisherige RL = guter Rechtsrahmen mit Chance auf sinnvolle Weiterentwicklung, etwa zu Stärkung Proportionalität +++ jetzige Evaluierung aber zu früh wegen fehlender Erfahrungswerte +++ Ausblick: IORP-III 2023 noch nicht in Sicht, da im Frühjahr 2024 Europawahl +++ Überarbeitung IORP-II beginnt erst danach +++ Komplettüberarbeitung nicht zu erwarten +++ Leitungsgremien in deutschen EbAV teilweise schon heute schwierig zu besetzen, mit Diversität und Inklusion noch mehr Herausforderungen +++
Fazit von LEITERbAV: Und jährlich grüßt die Regulierung
+++ Modernisierung und Werthaltigkeit der bAV durch hohe Inflation zusätzlich erschwert +++ notwendige hohe Rentenanpassungen bringen auf Verpflichtungsseite neue bilanzielle Herausforderungen +++ womöglich Chance auf Renaissance für Pensionskassen und weiteren Aufschwung von Direktversicherungen (wegen Exit-Option: keine Anpassungsprüfpflicht, falls alle Überschüsse ab Rentenbeginn zur Erhöhung der laufenden Leistungen) +++ vernünftig: Inflationsfestigkeit für künftige Neuordnungen von Versorgungssystemen als festes Kriterium berücksichtigen +++ Regulierung im Inland lässt durch Fachdialog Verbesserungen in Arbeitsrecht, Finanzaufsichtsrecht und Steuerrecht zugunsten bAV erwarten +++ Regulierung durch EU lässt eher zusätzliche Bürokratie erwarten +++ insbesondere Einzug von Diversität und Inklusion in EbAV-Leitungsgremien lässt Komplikationen und ggf. Zusatzkosten erwarten +++ immerhin: IOPR-II-Komplettüberarbeitung nicht zu erwarten +++
Teil I der Berichterstattung zu der Tagung findet sich auf LEITERbAV hier.
Teil II findet sich hier.