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Die kommentierte Presseschau zur bAV:

Kassandra

Regelmäßig freitags bringt LEITERbAV eine kommentierte Presseschau zur bAV. Heute: Besser ultra vires als Ultra-Virus…und bitte nicht das Bundesverfassungsgericht an der Nase herumführen!

 

 

Bundesverfassungsgericht (5. Mai): „Beschlüsse der EZB zum Staatsanleihekaufprogramm kompetenzwidrig.“

 

Das Urteil hat Kassandra regelrecht fassungslos gemacht, und es verdient ein paar Erläuterungen, die bisher in der geneigten Öffentlichkeit erst teilweise diskutiert worden sind (der wichtigste Punkt zum Schluss):

 

1.) Mit dem Urteil hat Prof. Andreas Voßkuhle in seinem letzten (!) Verfahren Rückgrat bewiesen und Weichen gestellt, wie es ihm wohl viele (einschließlich Kassandra) niemals zugetraut hätten. Mit der in harsche Worte („verkennt in offensichtlicher Weise…“ „Senat nicht an Entscheidung des EuGH gebunden“) gekleideten Entscheidung, dass EuGH-Urteile keinesfalls über allem stehen, sondern ultra vires sein können, hat er sich um ganz Europa verdient gemacht. Erinnert sei an den 2017 verstorbenen Bundespräsidenten Roman Herzog, der – die Älteren werden sich erinnern – im September 2008 in der FAZ (mit Lüder Gerken) mit seinem Beitrag „Stoppt den EuGH“ brutalstmöglich warnte:

 

.. dass der EuGH zentrale Grundsätze der abendländischen richterlichen Rechtsauslegung bewußt und systematisch ignoriert, Entscheidungen unsauber begründet, den Willen des Gesetzgebers übergeht oder gar in sein Gegenteil verkehrt und Rechtsgrundsätze erfindet, die er dann bei späteren Entscheidungen wieder zugrunde legen kann. Sie zeigen, dass der EuGH die Kompetenzen der Mitgliedstaaten selbst im Kernbereich nationaler Zuständigkeiten aushöhlt.„ 1)

 

Dass Voßkuhle diesen Beitrag seines frühen Amtsvorgängers Herzog in- und auswendig kennt, dürfte klar sein, und vermutlich hat er ihn selbst während des Verfahrens noch mehrmals gelesen. Bei den ersten QE-Urteilen von EuGH und BVerfG Mitte 2016, als Voßkuhle sich dem EuGH noch recht klaglos gebeugt hat, lebte Herzog noch. Als dieser dann im Januar 2017 starb, gehörte Voßkuhle zu den Trauerrednern auf dem Staatsakt in Berlin. Im August des gleichen Jahres gab er die neuerliche QE-Klage erneut an den EuGH, und dessen (erneut) auch intellektuell nicht überzeugende Entscheidung hat für Voßkuhle dann wohl endgültig das Maß voll gemacht. 2)

 

Für die Europäische Union, viel zu sehr von endlosen „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“-Eurokraten à la Junker 3) geprägt und getrieben, ist das eine gute Entscheidung, die ihr in Zeiten zunehmender Zentrifugalkräfte viel verlorene Akzeptanz und Legitimität wiedergeben wird.

 

2.) Zu dem Urteil an sich, das natürlich zahlreiche weitere Fragen aufwirft. Karlsruhe schreibt:

 

Der Bundesbank ist es untersagt, nach einer für die Abstimmung im Eurosystem notwendigen Übergangsfrist von höchstens drei Monaten an Umsetzung und Vollzug der verfahrensgegenständlichen Beschlüsse weiter mitzuwirken, wenn nicht der EZB-Rat in einem neuen Beschluss nachvollziehbar darlegt, dass die mit dem PSPP angestrebten währungspolitischen Ziele nicht außer Verhältnis zu den damit verbundenen wirtschafts- und fiskalpolitischen Auswirkungen stehen. Unter derselben Voraussetzung ist sie verpflichtet, für eine im Rahmen des Eurosystems abgestimmte – auch langfristig angelegte – Rückführung der Bestände an Staatsanleihen Sorge zu tragen.“

 

Nun kann man fragen, was passiert, sollte die Bundesbank sich wie vom Gericht angeordnet, von der QE-Umsetzung zurückziehen bzw. die Staatsanleihen zurückführen müssen, weil die EZB die Karlsruher Auflagen nicht erfüllt. Ausgeschlossen ist das nicht, hat Christine Lagarde doch gestern bereits erklärt, dass man „unbeirrt weitermachen“ werde. Würde dann in der Folge der Capital Key automatisch verletzt, weil die anderen nationalen Zentralbanken der Euroländer Anleihen ihres Staates durchaus weiterkaufen werden (sie müssen es, sonst brechen deren Haushalte sofort zusammen, in Corona-Zeiten erst recht), nur die Bundesbank nicht? Das wäre das Ende des Euro, nicht mehr und nicht weniger. Wohlweislich haben sich BMF und Bundesbank geweigert, diesbezügliche Fragen von LEITERbAV zu beantworten. 4)

 

3.) Weiter muss man fragen, ob die kommenden Corona-PEPP-Maßnahmen der EZB nur unter den gleichen, nun von Karlsruhe festgezurrten Voraussetzungen stattfinden dürfen. Das Gericht schreibt zwar:

 

Aktuelle finanzielle Hilfsmaßnahmen der Europäischen Union oder der EZB im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Corona-Krise sind nicht Gegenstand der Entscheidung.“

 

Doch das ist nur eine Formalie, weil die Klage von Peter Gauweiler, Bernd Lucke und weiteren die neuen PEPP-Maßnahmen gar nicht umfasste. Die nächste Klage, von wem auch immer sie kommen mag, wird das aber tun. Auch diese Frage wollten Bundesbank und BMF gegenüber LEITERbAV nicht beantworten.

 

4.) Zum letzten und wichtigsten Punkt unter den wichtigen:

 

Das Quantitative Easing an sich ist von Kassandra schon vor einem Jahrzehnt (damals noch in der dpn) regelmäßig thematisiert worden, auf LEITERbAV ohnehin seit Jahr und Tag.

 

Und seit dem Start des Aufkaufprogramms der EZB hat Kassandra gebetsmühlenartig darauf hingewiesen, dass Deutschland (wenn es schon die ordnungspolitisch falsche und fatale Gelddruckpolitik nicht verhindern kann oder will) peinlich genau darauf achten soll, dass die EZB beim Kauf den Capital Key einhält, da es sich bei QE um geschenktes Geld handelt (da die Staaten diese Schulden niemals tilgen, sondern höchstens refinanzieren werden).

 

Betreffend das Verfahren in Karlsruhe hatte die Kröte dann stets gefordert, das BVerfG möge Bundesregierung und -bank auftragen, mit der Drohung des Euro-Ausstiegs drei Dinge durchzusetzen, nämlich dass die EZB die Target-II Salden den Staaten stets ausgleicht, extrakonstitutionale Maßnahmen wie ANFA korrigiert und bei QE den Capital Key strikt einhält.

 

Einen dieser drei Punkte hat Voßkuhle zur Überraschung Kassandras nun also tatsächlich durchgezogen:

 

Vor allem die Ankaufobergrenze von 33% und die Verteilung der Ankäufe nach dem Kapitalschlüssel der EZB haben bislang verhindert, dass unter dem PSPP selektive Maßnahmen zugunsten einzelner Mitgliedstaaten getroffen wurden.“

 

Offenbar haben also auch die Verfassungsrichter erkannt, dass QE geschenktes Geld ist. Allerdings bleibt hier eine wichtige Frage offen: „die Verteilung der Ankäufe nach dem Kapitalschlüssel“! Ist der Capital Key denn überhaupt eingehalten worden? Wie kommt Voßkuhle überhaupt darauf?

 

In den vergangenen Jahren fanden sich jedenfalls zahlreiche Medienberichte, nachdem genau dies nicht der Fall ist. Über das heimliche 500-Mrd-schwere ANFA-Programm zugunsten Italiens und Frankreichs berichteten Die Welt und FAZ schon Ende 2015. Die Welt berichtete schon im Sommer 2017 über mögliche milliardenschwere Überkäufe italienischer und französischer Staatsanleihen, die FAZ im Sommer 2018 erneut.

 

Das irritiert. Denn die Verfassungsrichter um Voßkuhle werden sich wohl kaum die vielfältigen Einzelheiten und Berichte aller NZB aller Euroländer durchgesehen haben, um höchstselbst zu prüfen, ob der Capital Key nun wirklich von allen stets eingehalten worden ist dazu benötigte man wohl ein ganzes Team von Top-Wirtschaftsprüfern – sondern naheliegender ist, dass sie sich auf mögliche Angaben von Bundesbank und BMF verlassen haben.

 

Doch auch in diesem dritten Punkt der Frage nach dem Capital Key – verweigern beide gegenüber LEITERbAV jede Auskunft – und das, obwohl sich diese Frage nach Einhaltung des Kapitalschlüssels doch im Zweifel mit einem simplen Ja (oder eben Nein) beantworten ließe. Insofern muss die Verweigerungshaltung der beiden Behörden sehr stutzig machen. Ein Gedankenspiel: Haben vielleicht beide diese Angaben aus Gründen der Einfachheit gegenüber dem Gericht gar nicht so genau genommen, weil sie nicht ahnen konnten, dass Voßkuhle just dies derart ins Zentrum seines Urteils stellen würde? Und um die Angaben zu korrigieren, war es dann zu spät?

 

Wie dem auch sei, nur ein Gedankenspiel. Die LEITERbAV-Redaktion geht jedenfalls nicht davon aus, dass Bundesbank und BMF, obwohl klare Befürworter des QE-Programms, das Verfassungsgericht der Bundesrepublik Deutschland möglicherweise an der Nase herumgeführt haben, weder bewusst noch unbewusst – schließlich dürfte es sich hierbei um schwerste Straftaten handeln. Umso mehr irritiert die Verweigerungshaltung gegenüber der Öffentlichkeit auf die ebenso wichtige wie einfach zu beantwortende Frage nach dem Capital Key. Doch angesichts der gewaltigen Summen, die im Raum stehen, und angesichts der zweifelsohne geostrategischen Tragweite des Urteils wäre es klug von den beiden Bundesbehörden, jeden diesbezüglichen Verdacht schnell auszuräumen und mit offenen Karten zu spielen. LEITERbAV wird die Sache im Rahmen seiner limitierten Möglichkeiten als nur kleines Medium jedenfalls weiter verfolgen – und das in aller Öffentlichkeit.

 

 

 

FN 1) Auf den Seiten der FAZ nicht ohne weiteres verfügbar, Zusammenfassung bei Beck hier.

FN 2): Vorgestern hatte Voßkuhle seinen letzten Arbeitstag in Karlsruhe. Wenn sich das BVerfG nun noch einmal als echtes Bollwerk der Demokratie herausgestellt hat, dann darf man fragen, was nach Voßkuhle kommt. Der CDU-Ex-Abgeordnete Stephan Harbarth als designierter, nicht unumstrittener Nachfolger hat hier im Handelsblatt jedenfalls schon wenig schmeichelhafte Presse bekommen.

FN 3) Zitat Juncker: „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“ Der Spiegel, 27. Dezember 1999.

FN 4) Das BMF, nach Eindruck des Autors mit der Gemengelage ohnehin heillos überfordert, hat ernsthaft versucht, die reichlich technischen Fragen von LEITERbAV u.a. mit einem Verweis auf Statements von Olaf Scholz in den Tagesthemen zu beantworten.

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