Nachdem die erste Fassungslosigkeit über seinen Tod überwunden ist, blickt LEITERbAV mit ein wenig Abstand auf einen Menschen zurück, der die jüngere Geschichte der deutschen bAV geprägt hat wie kaum ein anderer. Ein Nachruf.
Der eine hatte seit seinem Ruhestand seinen Lebensmittelpunkt dorthin verlegt, für den anderen ist es ein häufiges Reiseziel: Keine sich bietende Gelegenheit ließen Bernhard Wiesner und der hier schreibende Chronist in den letzten zwei Jahren aus, sich auf Mallorca bei Tapas, Kaffee und Kuchen zum fachlichen Austausch zu treffen.
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Bernhard Wiesner, aus dem Siegerland stammend, Rechtsanwalt von Beruf, ab 1985 bei Bosch, bis zu seinem Ruhestand im Herbst 2015 viele Jahre Pensions-Chef des Konzerns und bis zu seinem Tod im Vorstand der aba, war der wohl kompromissloseste Vertreter, man könnte auch sagen: Kämpfer für die Interessen der unternehmenseigenen EbAV.
Egal, wo er auftrat, und er trat häufig auf, bei Handelsblatt- und aba-Tagungen, auf Konferenzen der EIOPA oder der Pensions Europe, führte er diesen Kampf – meist mit offenem Visier, aber wenn es ihm geboten schien im Sinne der Sache, dann auch mit geschlossenem. „Streitbar“ nannte ihn die aba in ihrem Nachruf gleich im ersten Satz. Dies Attribut hätte er wohl kaum als unpassend empfunden.
Überhaupt seine Präsenz, nehmen wir nur LEITERbAV: Gibt man im Suchfeld „Wiesner“ ein, erhält man einschließlich heute 42 Treffer. Damit dürfte er auf dieser Plattform einsamer Spitzenreiter sein.
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Gleich, wo die beiden sich auf Mallorca trafen, in Palma, im Hafen von Portixol, in Cala Major, zuletzt aber meist im Café Cappuccino am Kai des Yachthafens Portals Nous – stets kreuzte Bernhard Wiesner zu den Gesprächen mit seinem schweren Motorroller auf.
Dass ihm diese Art von Leben hier auf der Insel gefiel, das merkte man. Mahnungen des nicht nur in Fragen der Verkehrssicherheit leicht paranoiden Chronisten, dass motorisierte Zweiräder auch auf Mallorca ein risikoreiches Fortbewegungsmittel seien, quittierte er stets mit Abwinken.
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Keinen Millimeter aus dem Auge verlor Wiesner die bAV auch nach seiner Pensionierung. Das, was LEITERbAV 2015 ihm aus Anlass seines Ruhestandes zuschrieb, hatte praktisch uneingeschränkte Gültigkeit auch nach seinem Ausscheiden aus dem aktiven Berufsleben:
„Wie kaum ein zweiter setzt sich Wiesner gleichermaßen in Berlin und Brüssel für die Interessen der unternehmenseigenen bAV und ihrer Einrichtungen ein, die er kompromisslos als Sozialleistung der Industrie interpretiert und damit scharf von jeder Finanzdienstleistung abgrenzt, ausdrücklich auch von den Vorsorgeprodukten der Assekuranz. Sein steter Kampf für die bAV, bei dem er vor keinem Gegner zurückschreckt und auch innerhalb der Industrie stets auf klare Trennung von jeder Finanzdienstleistung pocht, gilt dabei vor allem allen Formen der gleichmachenden Regulierung, wie sie in der alten EU-Kommission verfolgt wurde und in Form des HBS von der europäischen Aufsichtsbehörde EIOPA weiterhin entwickelt wird.
Solvency II als Level Playing Field, Single Rule Book und EbAV als Finanzdienstleister: Schlagworte einer Lobbyarbeit, die er als strategische Kampfansage der Assekuranz an die bAV und damit an eine der wesentlichen Sozialleistungen der Industrie wertet – und damit praktisch als Angriff auf den inneren Frieden und die Zukunftsfestigkeit Deutschlands. Wiesner ist überzeugt, dass sich die Herausforderungen, vor denen die westlichen Industriestaaten auch demographisch stehen, sich über indivdualisierte Produkte der Finanzdienstleistung nicht im Ansatz werden beheben lassen, sondern nur über die kollektiven Non-Profit-Modelle der Industrie, in denen die Akteure Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Sozialpartner, Staat und Kapitalmärkte zusammenwirken.
Nicht müde wird er zu mahnen, dass sich für Deutschland das Zeitfenster des Handelns in der Altersvorsorge rasch schließt.“
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Gesprächsthema der beiden in Palma und Umgebung war zunächst immer dies und das – der mallorquinische Immobilienmarkt, die Flugverbindungen, die Politik in Spanien und Deutschland – aber vor allem natürlich die bAV, die auch unter hispanischer Sonne seine Leidenschaft blieb wie eh und je. Hier hatten beide einen sehr ähnlichen Blick auf die Dinge, nämlich eben den der unternehmenseigenen EbAV als Sozialleistung der Arbeitgeber und als stärkste, wichtigste und schutzwürdigste Form der bAV. Von „Hochleistungs-bAV“ sprach er hier am liebsten.
Doch so ähnlich man in Sachen bAV dachte, umso gegensätzlicher waren die Haltungen zur deutschen Tagespolitik. Über die stritten beide stets aufs Neue miteinander und bis aufs Blut. Kein Fußbreit Boden wurde da jemals von dem einen oder dem anderen preisgegeben. Ohne dass ihre freundschaftliche Kollegialität dadurch auch nur den allerkleinsten Schaden genommen hätte.
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„Ein individualisierter, versicherungsförmiger With-Profit-Durchführungsweg, der ein artfremdes Einfallstor der Solvency II-Welt in die Non-Profit-bAV darstellt“, schrieb er einst auf dieser Plattform wenig schmeichelhaft über die Direktversicherung. Das Eigenkapitalregime der Assekuranz schon in kleinsten Ansätzen fern der unternehmenseignen bAV zu halten, war eines seiner erklärten Ziele in den letzten Jahren.
Einer der größten Erfolge des Streitbaren war daher, als er und viele andere erreichten, dass die Europäische Kommission nach Jahren des Ringens endgültig den Gedanken aufgab, die Einführung von Solvency II artverwandt auf unternehmenseigene EbAV auszudehnen. Dass die Verabschiedung des neuen Paragrafen 236 VAG, der belegt, wie auch mit wenigen Stellschrauben in der deutschen bAV doch manches verbessert werden kann, zuweilen als „Lex Bosch“ bezeichnet wurde, ist zwar nicht treffend, unterstreicht aber doch, wie sehr Wiesners Denken und Wirken auf dem Parkett Prägung zeitigte.
Gleichwohl sah er die grundsätzlichen Weichen für die deutsche bAV falsch gestellt: tendentiell weg von der kollektiven Non-Profit-Sozialleistung hin zu individualisierten Produkten der Versicherer. Die Entwicklung der Riester-Rente ab 2002 führte er hier stets als mahnendes Beispiel an. Nichtstun hieße, diesen Trend wirken zu lassen. Die gegenwärtige bAV-Reform war für ihn, der sie von Beginn an energisch unterstützte und der stets klare Vorstellungen von der Zukunft der bAV hatte, daher auf dem besten Weg, ein Meilenstein in der deutschen Pensions-Geschichte zu werden. In der intensiven, angenehm kontroversen Diskussion, die derzeit geführt wird, fehlt seine Stimme schon jetzt.
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Legion sind Wiesners Reden auf aba-Tagungen. Besonders provokant war die auf der Jahrestagung der Verbandes im Mai 2015 in Berlin, die mit nicht weniger übertitelt war als mit „Der Untergang der betrieblichen Altersversorgung.“
Nicht zu unterschlagen aber auch seine zahlreichen Sperrfeuer-Kommentare auf LEITERbAV, bei denen allein schon so manche Headline – „Kein dritter Schuss“, „Stunde der Wahrheit“, „Weiße Salbe und totes Pferd“, „Es könnte so einfach sein“, und „Wenn der Fahnenträger wankt“ – das Zeug zum Filmtitel gehabt hätten, von den pointierten Inhalten ganz zu schweigen.
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Irgendwann im Sommer oder Herbst 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, gingen Wiesner und der Chronist in Palma eine Wette ein: Dass Angela Merkel zur nächsten Bundestagswahl Ende 2017 nicht mehr antreten werde, darauf setzte der Chronist. Wiesner hielt dagegen. Einsatz: eine Kiste Sekt.
Wenn nichts ungewöhnliches mehr passiert, wird Wiesner diese Wette wohl posthum gewinnen. Doch wie Umgehen mit Wettschulden, die man gegenüber einem Verstorbenen hat? Und keiner weiß…
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Dass einer wie Wiesner nicht nur viele Freunde und Sympathisanten hatte, sondern auch Kritiker, verwundert nicht. Einer der wußte, wie man den Helm enger schnallt, der die reine Lehre rein vertrat und der schon mahnend den Finger hob, wenn man nur vom „Markt“ der bAV sprach, hatte Gegner. Doch jemanden, der seine Verdienste um die unternehmenseigene bAV, um die Schärfung deren eigenen Bewusstseins, um den Einsatz für deren Interessen kleingeredet hätte, den hätte man schon zu seinen Lebzeiten vergeblich gesucht.
Unvergessen, wie die EIOPA Ende 2013 bei der Neuberufung zu ihrer Occupational Stakeholder Group ihn in rechtlich nicht unfragwürdiger Weise überging, so dass kein deutscher Industrievertreter mehr in dem Gremium war. Man wurde den Eindruck nicht los, dass die an Ehrgeiz und Gestaltungswille alles andere als arme Behörde seinerzeit nicht in der Lage war, einen gnadenlosen Counterpart wie Wiesner auszuhalten. Immerhin, der Protest gegen das damalige Vorgehen hat dazu geführt, dass die EIOPA es bei der bei der nächsten OPSG-Neubesetzung 2015 mit der Berufung Stefan Nellshens nicht erneut gewagt hat, die deutsche Industrie zu übergehen.
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Diese Zeilen schreibt der Chronist in einem Kaffeehaus in Santa Catalina sitzend, im Westen Palmas. Es ist das erste Mal seit fast zwei Jahren, dass er auf der Insel ist, ohne seinen ebenso klugen wie beinharten Gesprächspartner zu treffen. Er wird ihn niemals mehr treffen.
Unmittelbar vor den Toren seines Heimatortes Portals Nous, auf der Brücke nach Costa d'en Blanes über die Autobahn Palma-Andraitx, ist Bernhard Wiesner am Freitag, dem 10. März dieses Jahres, mit seinem Motorroller verunglückt. Kurz darauf ist er im Krankenhaus gestorben.
Die deutsche bAV – namentlich die der unternehmenseigenen EbAV – verliert mit Bernhard Wiesner einen ihrer stärksten Protagonisten, der Chronist einen inspirierenden, freundschaftlich verbundenen Gesprächspartner und LEITERbAV einen seiner frühesten und ehrlichsten Unterstützer.