Arbeitnehmer eines insolventen Unternehmens, die mit diesem zu einem Käufer wechseln, können nicht damit rechnen, dass ihre bAV-Anwartschaften sie vollumfänglich begleiten werden. Das hat gestern das BAG in knapp zwei Dutzend Fällen entschieden – und sich dabei am europäischen Recht orientiert. Dem deutschen Gesetzgeber bleibt damit vermutlich erspart, die bAV im großen Stil wieder anfassen zu müssen.
Wie gestern vermeldet, hatte das BAG in sage und schreibe 23 Fällen zu entscheiden, inwieweit ein Käufer eines insolventen Unternehmens für dessen Betriebsrenten haftet, insb. unter dem Gesichtspunkt, ob die gängige deutsche Rechtssprechung in Einklang mit europäischem Recht steht. Zur Klärung hatte das BAG die Frage dem EuGH vorgelegt, der im bereits September 2020 entschied.
Gestern nachmittag hat nun hat der Dritte Senat geurteilt; Leitsatz:
„Der Erwerber eines Betriebs(teils) in der Insolvenz haftet nach § 613a Abs. 1 BGB für Ansprüche der übergegangenen Arbeitnehmer auf Leistungen der bAV nur zeitanteilig für die nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens zurückgelegte Dauer der Betriebszugehörigkeit.
Für die Leistungen, die auf Zeiten bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens beruhen, haftet er auch dann nicht, wenn für diesen Teil der Betriebsrente nach dem Betriebsrentengesetz der PSV nicht vollständig eintritt.“
Der Senat schildert wieder technische Einzelheiten diesmal zweier Beispielfälle (3 AZR 139/17 und 3 AZR 878/16, beide von der Vorinstanz abgewiesen):
„Den beiden Klägern sind Leistungen der bAV zugesagt worden. Nach der Versorgungsordnung berechnet sich ihre Betriebsrente nach der Anzahl der Dienstjahre und dem – zu einem bestimmten Stichtag vor dem Ausscheiden – erzielten Gehalt.
Über das Vermögen ihrer Arbeitgeberin wurde am 1. März 2009 das Insolvenzverfahren eröffnet. Im April 2009 ging der Betrieb nach § 613a Abs. 1 BGB auf die Beklagte über.
Einer der Kläger erhält seit August 2015 von der Beklagten eine Betriebsrente von ca. 145 Euro und vom PSV eine Altersrente von ca. 817 Euro.
Bei der Berechnung legte die Beklagte zwar die Versorgungsordnung einschließlich des zum maßgeblichen Stichtag vor dem Versorgungsfall bezogenen höheren Gehalts zugrunde, ließ aber den Anteil an der Betriebsrente, der vor der Insolvenz erdient war, außer Betracht.
Der PSV setzte dagegen – wie im Betriebsrentengesetz vorgesehen – das zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens maßgebliche niedrigere Gehalt des Klägers an.
Der Kläger hält die Beklagte für verpflichtet, ihm eine höhere Betriebsrente zu gewähren. Diese müsse sich nach den Bestimmungen der Versorgungsordnung auf der Basis des höheren Gehalts unter bloßem Abzug des Betrags errechnen, den er vom PSV erhalte.
Nicht minder spannend der zweite Beispielfall, denn dort spielt die Frage der Unverfallbarkeit rein:
„Der andere Kläger verfügte bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch nicht über eine gesetzlich unverfallbare Anwartschaft. Daher steht ihm bei Eintritt eines Versorgungsfalls nach dem Betriebsrentengesetz kein Anspruch gegen den PSV zu. Er hält die Beklagte für verpflichtet, ihm künftig eine Betriebsrente in voller Höhe zu gewähren.“
Die Revisionen der Kläger hatten vor dem Dritten Senat also keinen Erfolg. Nach der – im Hinblick auf die besonderen Verteilungsgrundsätze des Insolvenzrechts einschränkenden – Auslegung von § 613a Abs. 1 BGB durch die deutschen Arbeitsgerichte können die Kläger mit ihren Klagebegehren nicht durchdringen, erläutert der Senat.
Ein Betriebserwerber in der Insolvenz haftet also nicht für Betriebsrentenanwartschaften, die im Sinne von § 108 Abs. 3 Insolvenzordnung für die Zeit vor Insolvenzeröffnung entstanden sind.
Der Senat betont, dass diese Rechtsprechung gemäß der EuGH-Entscheidung vom 9. September 2020 (C-674/18 und C-675/18) mit Unionsrecht vereinbar ist; gerechtfertigt nach der allgemeinen Regelung des Art. 3 Abs. 4 Richtlinie 2001/23/EG, der auch neben den nur in der Insolvenz geltenden Bestimmungen in deren Art. 5 anwendbar bleibt. Voraussetzung: dass ein Art. 8 Richtlinie 2008/94/EG entsprechender Mindestschutz gewährt wird (wie man ihn bereits in der neuen BAG-Rechtssprechung zum Insolvenzschutz von Pensionskassenzusagen kennt).
Eben dieser unionsrechtlich gebotene Mindestschutz wird in Deutschland durch einen unmittelbar aus dem Unionsrecht folgenden und gegen den PSV gerichteten Anspruch gewährleistet, führt der Senat weiter aus. Eine Haftung des Erwerbers scheidet deshalb aus.
Auf das Schicksal der unverfallbaren Anwartschaften ging der Senat in seiner gestrigen Berichterstattung zu den Fällen nicht explizit ein, doch kann man (das Urteil liegt noch nicht vor) offenbar davon ausgehen, dass es hier zu keinen Überraschungen gekommen ist. Insgesamt sollte das Urteil nicht dazu führen, dass der Gesetzgeber kurz nach der aufwändigen Neuregelung des Insolvenzschutzes in der bAV die Materie erneut anfassen muss. Insofern bleibt der deutschen bAV in einer nicht einfachen Lage weitere Unsicherheit vermutlich erspart.
Die Vorinstanzen der beiden Beispielfälle waren:
LAG Düsseldorf, Urteil vom 20. Januar 2017 – 6 Sa 582/16 –
LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 4. November 2016 – 1 Sa 120/16 –
Der Senat hat in 20 weiteren im Wesentlichen gleich gelagerten Rechtsstreiten die Klageabweisungen der Vorinstanzen bestätigt (in der Ankündigung zu den Verfahren war von deren 23 die Rede, mglw. liegt hier eine Doppelzählung vor).
Das BAG hat in seiner Berichterstattung zu den Fällen die zentrale Regelung des Unionsrechts beigefügt. Art. 3 Richtlinie 2001/23/EG lautet auszugsweise:
„1. Die Rechte und Pflichten des Veräußerers aus einem zum Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsvertrag oder Arbeitsverhältnis gehen aufgrund des Übergangs auf den Erwerber über.
…
3. Nach dem Übergang erhält der Erwerber die in einem Kollektivvertrag vereinbarten Arbeits- bedingungen bis zur Kündigung oder zum Ablauf des Kollektivvertrags bzw. bis zum Inkrafttreten oder bis zur Anwendung eines anderen Kollektivvertrags in dem gleichen Maße aufrecht, wie sie in dem Kollektivvertrag für den Veräußerer vorgesehen waren.
Die Mitgliedstaaten können den Zeitraum der Aufrechterhaltung der Arbeitsbedingungen begrenzen, allerdings darf dieser nicht weniger als ein Jahr betragen.
4. a) Sofern die Mitgliedstaaten nicht anderes vorsehen, gelten die Absätze 1 und 3 nicht für die Rechte der Arbeitnehmer auf Leistungen bei Alter, Invalidität oder für Hinterbliebene aus betrieblichen oder überbetrieblichen Zusatzversorgungseinrichtungen außerhalb der gesetzlichen Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten.
b) Die Mitgliedstaaten treffen auch dann, wenn sie gemäß Buchstabe a) nicht vorsehen, dass die Absätze 1 und 3 für die unter Buchstabe a) genannten Rechte gelten, die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Interessen der Arbeitnehmer sowie der Personen, die zum Zeitpunkt des Übergangs bereits aus dem Betrieb des Veräußerers ausgeschieden sind, hinsichtlich ihrer Rechte oder Anwartschaftsrechte auf Leistungen bei Alter, einschließlich Leistungen für Hinterbliebene, aus den unter Buchstabe a) genannten Zusatzversorgungseinrichtungen.“
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