Unregelmäßig freitags bringt PENSIONS●INDUSTRIES eine kommentierte Presseschau zur bAV. Heute off topic only: Zwischen Krieg und Frieden. Wer kein Genscher ist. Deutschland, dein gefährliches Spiel. Wehe, wenn sie sich wirklich nur um ihren Kram kümmern. Und vor allem: Für drei Protagonisten der deutschen Politik könnte die Musik am Sonntag aufspielen zum letzten Tanz.
The White House (14. Februar): „If you’re running in fear of your own voters, there is nothing America can do for you“.
BR24 (15. Februar): „US-Beauftragter: Europa bei Ukraine-Gesprächen nicht am Tisch.“
Kassandra – auch genannt das Orakel von Berlin – wünschte sich, an den Kapitalmärkten soviel Prognosekraft zu haben wie in der Politik. Denn dann wäre diese Plattform längst eingestellt: wegen Reichtums!
Jedenfalls hatte die Kröte am vergangenen Freitag nur auf Basis des kurzen Statements des neuen US-Verteidigungsministers Pete Hegseth die neue Form der europäisch-amerikanischen Beziehungen analysiert und v.a. prognostiziert, wie Donald Trump den Friedensprozess im Osten vorantreiben wird (nämlich ohne Einbezug der Europäer). Und prompt hält wenige Stunden später der neue US-Vize JD Vance in München eine Rede, die sich gewaschen hat, in der er die Pflöcke einschlägt, die mindestens die kommenden vier Jahre, eher länger, den Nordatlantik prägen werden, und die seitdem die Europäer in helle Aufregung versetzt hat.

Jedem Interessierten kann nur dazu geraten werden, diese Rede anzuhören und zu verinnerlichen – egal, ob das, was man da hört, gefällt oder nicht. Tja, Europa, wie schnell doch der Wind sich drehen kann, besonders wenn er schärfer wird, was?!
Und nochmal nur einige Stunden später wird der Ukraine-Beauftragten Keith Kellogg konkret: Europa und Deutschland bleiben bei den kommenden Verhandlungen draußen vor der Tür, die Ukraine wird dagegen dabei sein. Hat Donald Trump etwa zwischendurch Kassandra gelesen? Vermutlich.
„Wenn Sie in der Außenpolitik nicht am Tisch sitzen, dann stehen Sie auf der Speisekarte.“
Jedoch: Nicht auszuschließen, dass es Macron noch an diesen Tisch schafft. Zumindest der Form halber. Wie gesagt, Trump ist schlau. Schlau genug, die Europäer gönnerhaft an der kurzen Leine zu führen – und dabei manchen zu schmeicheln, manchen nicht. Divide et impera ist eine spieltheoretische Masche Trumps (den wirren und gefährlich Unkalkulierbaren zu spielen eine andere).
Es gilt hier für die Europäer übrigens ein Wort Anthony Blinkens, welches das Zeug zu einem echten Axiom hat: „Wenn Sie in der Außenpolitik nicht am Tisch sitzen, dann stehen Sie auf der Speisekarte“ (ein Satz, der eigentlich in den Tannhäuser-Artikel gehört hätte).
Bei deutschen Politikern herrscht derweil immer noch die Meinung vor, man könne die Ukraine-Sache auch alleine stemmen. Nochmal: Das ist zumindest militärisch und nachrichtendienstlich ausgeschlossen, erst recht, sollten sich die Amerikaner ohne einen Friedensschluss aus dem Konflikt zurückziehen – was sie im Zweifel tun werden.
Um zu dieser Erkenntnis der Aussichtslosigkeit der Europäer zu kommen, muss man an sich kein Einstein sein. Man besehe sich sich nur Lage und Perspektive Deutschlands in diesen Jahren, Industrie, Politik, Demographie, Sozialsysteme, Migration, Technologie… Die deutsche Insuffizienz ist hier auf dieser Plattform seit über zehn Jahren freitags rauf und runter dekliniert worden; es braucht hier keine weiteren Erläuterungen. Wer denkt, dass das Deutschland des Jahres 2025 samt seiner europäischen Nachbarn (die mehr oder weniger alle die gleichen Probleme haben) nun noch on top allein den Konflikt mit Russland stemmen könnten, der verkennt jede Realität. Das Russland selbst ein geostrategischer Krüppel ist, ändert daran nichts.
Die Welt (15. Februar): „‘Kümmere dich um deinen eigenen Kram’, pöbelt Habeck.“
Auf die geschliffene Rede des neuen US-Vize (und dem Mann der US-Zukunft schlechthin) JD Vance, hat auch Habeck reagiert, offenbar mit dem Satz „Kümmere dich um deinen eigenen Kram“.
Das Verhalten Habecks – als Wirtschaftsminister ohnehin mit eher durchwachsener Performance für Deutschland – muss Sorgen machen, nicht nur unter dem Gesichtspunkt des Niveaus, sondern auch unter dem der Fähigkeit, die Lage zu erfassen. Aber zugegeben: Das hat er nicht exklusiv. Denn offenbar tun sich – freundlich ausgedrückt – die deutschen politischen Spitzen durch die Bank immer noch schwer, die neue Realität zu erkennen (dass man im traditionell etwas begriffsstutzigen Deutschland grundsätzlich die Regeln des neuen, 1990 begonnen Zeitalters noch nicht so recht begriffen hat, wurde hier bereits bemängelt).
„Sie werden Deutschland und Europa zunehmend sich selbst überlassen.“
Jedoch kann Habeck ganz beruhigt sein: Die Amerikaner um Trump, Vance, Hegseth und Musk werden sich künftig in der Tat um ihren „eigenen Kram“ kümmern – und Deutschland und Europa zunehmend sich selbst überlassen. Nochmal von letztem Freitag wiederholt: Wir sind denen einfach nur noch egal.

Bleibt zu hoffen, dass die Amerikaner – bevor sie sich abwenden, ohne einen müden Pfennig zu hinterlassen – vorher den Friedensschluss zwischen der Ukraine und Russland managen können; denn zurückziehen aus dem Konflikt werden sich die Amerikaner auf jeden Fall, sei es mit Frieden oder ohne:
Wenn mit Frieden, dann wird die Sache für die Europäer, namentlich für die Deutschen, wie hier schon oft dargelegt, eben nur teuer; die Amerikaner zahlen nichts. Wenn ohne Frieden, dann ggf. auch gefährlich. Nochmal: Spannend wird, wie Merz aus seinem Taurus-Versprechen rauskommen will. Denn solange die Amerikaner auf Frieden drängen, kann er sich darauf berufen, erstmal abwarten zu wollen. Wenn die Amerikaner aber gehen, und der Krieg bleibt – dann wird es schnell Druck auf ihn geben, Taurus zu liefern. Polit-militärische Konsequenzen? Unklar. Wie gesagt, dann besser Palma als Berlin (Sie wissen schon, Logenplatz und so).
Wie dem auch sei, die Europäer, v.a. die Deutschen und in erster Linie Herr Habeck, werden sich noch sehr wundern, was es heißt, wenn die Amerikaner sich um ihren „eigenen Kram“ kümmern.
Daily Mail (20. Februar): „JD Vance warns Zelensky he will regret ‚badmouthing‘ Trump and condemns his ‚atrocious‘ response to peace talks.“

Und während die Amerikaner ständig weiter nachlegen, liegen in Europa offenbar die Nerven blank. Kein Wunder, für Selenskyi geht es schließlich im wahrsten Sinne des Wortes um alles oder nichts. Doch wie der Daily Mail-Beitrag zeigt, sind die Amerikaner – anders als die deutschen Politiker (man denke an den Botschafter Melnyk) – auch nicht mit harten Worten zu beeindrucken; im Gegenteil.
Jedem muss klar sein: Diese Amerikaner werden sich nicht beirren lassen.
Und noch etwas: Donald Trump ist alt. Aber die überaus energischen und entschlossenen Männer und Frauen um ihn herum sind jung, teils sehr jung. Völlig abwegig anzunehmen, es sei nicht schon jetzt klar, dass diese Truppe die Vereinigten Staaten für mindestens acht Jahre steuern wird, eher länger.
ZDF (16. Februar): „Berlin direkt vom 16. Februar 2025.“
Übrigens sind die deutschen Journalisten in der Erkenntnis des an sich Offensichtlichen schon einen kleinen Schritt weiter als die deutschen Politiker.
Während letztere noch trotzig bis fordernd auftreten, scheinen die ZDF-Redakteure hier schon zu beginnen, die neue Realität zu begreifen – der Beitrag „Berlin Direkt“ lässt jedenfalls erkennen, dass die Autoren sich der regelrecht alternativlosen Schwäche Deutschlands angesichts des amerikanischen Kurswechsels langsam, aber sicher bewusst werden.
Am Rande: In dem Beitrag taucht übrigens auch ein gewisser CDU-Politiker namens Wadepuhl auf, der es mit seiner überlegenen Klugheit vor kurzem schon auf diese Plattform geschafft hat. Aber warum sich jemand zur internationalen Geo-Politik äußert, der sich am Telefon von russischen Komikern aufs Glatteis führen lässt, wird er leider nicht gefragt – ob Deutschland mit solchen Leuten für das Great Game, das hier gespielt wird, gut aufgestellt ist, auch nicht.
„Trumps Plan liegt klar auf der Hand.“
Nochmal zur Klarstellung: Strategisch haben die Amerikaner alle Trümpfe in der Hand. Sie können schlicht weiter über die Köpfe der Europäer mit Russland direkt verhandeln (und die Ukraine wenigstens der Form halber einbinden).
Trumps Plan liegt dabei klar auf der Hand: Das Sterben beenden ist das eine. Das andere ist: das taumelnde Russland aus der Umklammerung Chinas zu lösen und wieder zu einem halbwegs unabhängigen Akteur zu machen, der nicht gezwungen ist, an der Leine desjenigen raumfremden Akteurs zu gehen, den die Amerikaner als ihren wahren Rivalen sehen.
Aber gerade, wenn das insuffiziente, nur semi-rationale Russland seine Lage überschätzt und auf stur schaltet, dann können die USA im Zweifel auch mit den Füßen abstimmen: also sich einfach aus dem laufenden Konflikt zurückziehen und die Ukraine, Russland und die Europäer ihrem dann gemeinsamen Schicksal überlassen – wie auch immer dieses aussehen möge.
Gerade an dem Abstimmen mit dem Füßen kann die Amerikaner erst recht niemand hindern. Sie könnten dann die Ukraine gerade noch soweit unterstützen, dass die sich mit Hilfe der Europäer gerade so gegen Russland behaupten kann, und auf diese Weise den Krieg weitere Jahre andauern lassen – ohne Gewinner und ohne Verlierer (Verlierer sind dann allerdings eigentlich alle in Europa). Wenn sie parallel dazu noch eine Industriepolitik fahren, um die letzten Perlen v.a. der deutschen Industrie zu gewinnen (Stichwort: „SAP macht endlich die Linde“), dann wäre das deutsch-europäische Trauerspiel perfekt. Zugegeben, ein relativ düsteres Szenario, aber das ist nur in seiner extrem Ausprägung relativ unwahrscheinlich.
Jedenfalls muss auch der letzte Kriegsbegeisterte zugeben, dass ein Frieden viele Gewinner hätte: Russland entgeht der Totalausblutung, die Ukraine der unweigerlichen Totalzerstörung – und Europa der Gefahr, über kurz oder lang doch aktive Kriegspartei zu werden. Gewinner wären auch all diejenigen jungen Männer, die noch nicht getötet oder verstümmelt worden sind.
„Aber Sie sind halt kein Genscher.“
Die Europäer wissen im Moment nicht viel mehr, als zu schimpfen, mit dem Füsschen aufzustampfen und dem Fäustchen aufs Tischchen zu hauen. Doch wollen sie sich zurück ins Spiel bringen, gäbe es sogar einen Weg: Einer Annalena Baerbock sei geraten, jetzt sofort zur Pendel-Diplomatie zu greifen und einen unmittelbaren Waffenstillstand im Schatten der ohnehin anstehenden Friedensverhandlungen zu erreichen, auch im Sinne der Europäer. Die Kraft, auf dem Schlachtfeld einen Fait accompli zu schaffen, haben beide Seiten ohnehin nicht, insofern wäre die Gelegenheit günstig, unmittelbar das Töten zu stoppen. Frau Baerbock: Genscher hätte das getan. Aber Sie sind halt kein Genscher. Noch weniger als ein Scholz ein Schröder ist.
Dass diese Amerikaner aber mit den Füßen abstimmen werden, wenn die Entwicklung nicht nach ihrer Nase geht, das steht ohne Zweifel auf der Agenda. Und dann stehen alle Beteiligten dumm da, die Europäer, die Ukraine, und bei genauem Hinsehen auch die Russen.
Es gilt: Je schneller sich in Deutschland geopolitische Rationalität durchsetzt, nicht umso besser, aber umso weniger schlimm. Doch erkennbar am Horizont ist hier was? Genau: nichts.
Heise (18. Februar): „Nach Urteil: Einspruch von X gegen Weitergabe von Daten zur Bundestagswahl.“
Gefährliches Spiel, Deutschland. Wenn man US-Unternehmen über die deutsche Justiz einschränken will, muss man auch das Echo vertragen können. Das gilt erst recht, wenn der Inhaber des Unternehmens quasi Mitglied der US-Administration ist. Außerdem hat Donald Trump schon hinreichend bewiesen, Vergeltungsmaßnahmen schnörkellos mit einer Unterschrift umzusetzen. Und der Vergeltungsmaßnahmen haben die USA gegenüber Deutschland unendlich viele. Man wird sehen, wie die Sache weitergeht, aber wenn es eskaliert, steht jetzt schon fest, wer den kürzeren ziehen wird.
RND (20. Februar): „Sonntagsfrage zu den Parteien – Umfragewerte: Wie die Bürgerinnen und Bürger wählen würden.“
Jetzt zum heutigen Über-Thema für Deutschland: Übermorgen wird es spannend!
Und wenn es schlecht läuft, könnte es für drei prominente Akteure der letzte Tanz, der letzte Tango auf dem Berliner Parkett werden; gehen wir durch:
1. Sarah Wagenknecht: An dieser Stelle wurde schon vor der Gründung des BSW geunkt, dass Wagenknecht uns allen doch eben dieses „armselige Drama“ ersparen möge. Hintergrund: zwei strategische Defizite, die sie möglicherweise übersehen, zumindest unterschätzt hat:
Erstens, dass sie über den Zustrom von Exilanten aus der Linkspartei bald in ihrer eigenen Partei isoliert sein und die unmittelbare Kontrolle verlieren könnte. Und zweitens, dass in der Folge in ihrer Partei Druck und Wille gleichzeitig entstehen könnten, zur Verhinderung der AfD mit Union oder SPD koalieren zu müssen – etwas, das ihr ihre Wählerschaft, die klar aus dem Anti-Lager stammt, nicht verzeihen dürfte.
Beides hat sich, obwohl sie sich persönlich dagegen gestemmt hat, im Zusammenwirken nach den Wahlen im Osten nun materialisiert, und prompt bekommt sie die Quittung. Jedenfalls steht das BSW in den Umfragen prekär nah an der tückischen 5%-Hürde (die bekanntlich eine Eigendynamik nach unten forciert), und sollte sie am Sonntag scheitern, dann wird das, wie hier schon prophezeit, ihr Ende als politische Akteurin in der Bundesrepublik sein. Profiteure des Verglühens der Sternschnuppe BSW: AfD und Linkspartei.

Parlamentarischer Treppenwitz am Rande ist übrigens die Wiederauferstehung ebenjener Linkspartei (die auch von Kassandra längst totgeglaubt wurde), die nun angesichts der Schwäche des BSW fröhliche Urständ feiert und nach jetzigem Stand der Umfragen die 5%-Hürde deutlich überspringen sollte. Auch wenn die Schwäche des BSW also nicht überrascht: dass die Linke derart stark wieder aufersteht, schon eher.
Hauptgrund dürfte sein, dass die hier mehrmals schon erwähnte Polarisierung der Gesellschaft angesichts der Schärfe der Auseinandersetzungen mit der bärenstarken AfD das beachtliche Nichtwählerpotential der politischen Linken mobilisiert („Wählen gegen rechts“). Auch Grüne und SPD dürften von diesem Effekt ein wenig profitieren. Nebenwirkung ist ein Anstieg der Wahlbeteiligung, der die Akteure ohne strategische Tiefe – also FDP und nun auch BSW – in der Todeszone der 5%-Hürde schon schlicht arithmetisch noch weiter unter Druck setzt.
2. Christian Lindner: Der Selbstmord der FDP in der Ampel und damit das politische Ende Lindners wird hier ebenfalls seit ewigen Zeiten beunkt – in einer harschen Wortwahl, die vor kurzem selbst Friedrich Merz mehrfach höchstselbst gewählt hat.
Die Ursachen sind hier rauf und runter dekliniert worden, rund um die Stichworte fehlende strategische Tiefe, Todeszone 5%-Hürde, Verrat der liberalen Ideale in der Ampel, steigende Wahlbeteiligung infolge der schärferen Konflikte und das ewige Image zwischen Steigbügelhalter und Wendehals.

Fakt ist: Die FDP wird in der gegenwärtigen Gemengelage schlicht nicht mehr gebraucht. Beispiel Power-Thema Migration: Wollen Sie mehr davon, stimmen Sie besser für rot/grün. Sind Sie hier aber skeptisch oder gar strikt dagegen, wählen Sie besser CDU oder gleich AfD. Position der FDP hier? Wer weiss das schon …
Und auch als Wirtschaftsliberaler sind Sie heutzutage bei der Union besser aufgehoben. Die winzige FDP hat schließlich hinreichend bewiesen, dass sie in einer Koalition überhaupt keine Überzeugungen durchsetzen kann. Und warum überhaupt das Risiko eingehen, dass Sie Ihre Stimme mit der FDP unterhalb der 5%-Hürde verlieren, wenn Sie sie auch der Union geben können, die sicher drin ist und die außerdem als stärkster Partner in einer Koalition die Richtung vorgibt, während die FDP als Mini-Partei bei rot/grün praktisch nur gehorchen konnte …
Zum Dritten im Bunde der Tango-Tänzer: Friedrich Merz! Wie jetzt Merz? Die Union liegt doch in den Umfragen klar vorne. Und sagte nicht Kassandra selbst immer, dass die Union in der guten strategischen Lage ist, vor der Brandmauer den ganzen Unmut der Wähler einzusammeln, bevor er bei der AfD ankommt? Ja, grundsätzlich richtig. Doch läuft nun trotzdem vieles taktisch gegen die Union, was sich in der Summe strategisch auswirken könnte:
„Die Leute haben weniger Scheu, über die Brandmauer zu springen.“
Die AfD ist mittlerweile so stark, dass die Menschen längst nicht mehr so viele Hemmungen haben wie früher, sie zu wählen. Das begann spätestens mit den drei Landtagswahlen im Osten, zeichnete sich aber schon früher ab. Bildlich: Die Leute haben weniger Scheu, bei Unmut direkt über die Brandmauer zu springen. Und wenn man liest, dass angeblich Millionen Wähler für Sonntag noch unentschlossen seien, kann es gut sein, dass viele von denen am Ende bei der AfD landen, weil sie faktisch längst entschlossen sind, aber immer noch keine Lust haben, dies gegenüber einem ihnen unbekannten Wahlforscher zu erklären. Insofern gibt es hier Überraschungspotential (richtig ist aber auch, dass dies von AfD-Anhängern bisher vor jeder Wahl erwartet wurde und noch nie eingetroffen ist).

Außerdem hat das Scheitern des Zustrombegrenzungsgesetzes gezeigt, dass Friedrich Merz weder seine Fraktion im Bundestag zu 100%, aber erst recht nicht die links von ihm stehenden CDU-Landesfürsten im Griff hat. Nicht mal mithilfe der AfD und der FDP konnten er das Gesetz durchbringen. Das bedeutet, dass die Menschen, die bei der Migration kritisch sind, sich von der Union nicht mehr allzu viel versprechen können. Wenn er es schon mit AfD und FDP nicht geschafft hat, wie soll Merz es dann erst mit rot und grün in der nächsten Regierung schaffen, die Migration zu begrenzen?
Nehmen wir also das aus Merzens Sicht ungünstigste, aber aus Sicht Kassandras wahrscheinliche Szenario für Sonntag an: Die FDP nimmt ein paar Prozentpunkte der bürgerlichen Stimmen mit in den Orkus, und es reicht – v.a. wegen überraschend starker SPD, AfD und Linkspartei – nicht für schwarz/rot. Ergo benötigt Merz wie hier entgegen aller damaligen Umfragen prognostiziert ZWEI Koalitionspartner. Infrage kommen nur rot und grün.
Womit ist er dann konfrontiert? Links von ihm eine bis zwei linke Parteien in der Opposition, ebenfalls links von ihm rot und grün (gemeinsam so stark wie die Union) mit ihm in der Koalition, und rechts von ihm eine bärenstarke AfD, die ihn in der weiter eskalierenden Migrationsfrage vor sich hertreibt. Dazu noch die Landesfürsten in NRW, Schleswig-Holstein und vor allen Dingen Bayern, die sowieso machen, was sie wollen: Welche Art von Gestaltungsspielraum, soll er denn dann überhaupt haben? Und all das angesichts der Herausforderungen, von denen das Land steht. Für Deutschland ungünstige Entwicklungen im Osten sind da noch gar nicht eingepreist.
„Wie ein Bergsteiger, der zum Schluss wenigstens einmal den Gipfel erreichen will.“
Dass aber Friedrich Merz Bundeskanzler wird, daran kann kaum ein Zweifel bestehen. Man fragt sich nur, warum er sich das antut. In seinen Fundamentals übrigens keineswegs gradlinig, wirkt er wie ein Bergsteiger, der jetzt zum Schluss noch endlich wenigstens einmal den Gipfel erreichen will.
Vergnügungssteuerpflichtig wird das, was auf den kommenden Bundeskanzler Merz zukommt, jedenfalls nicht. Die Herausforderungen, vor denen Deutschland steht, sind bekannt, und wenn wie oben geschildert, noch die allein zu stemmende Bewältigung des Ukraine-Konfliktes durch die Europäer hinzutritt, dann wird die Sache Deutschlands vollends infaust.
Wie dem auch sei, Kassandra bleibt dabei: Ändern wird sich nach der Wahl unter schwarz/rot/grün (wegen der Farbkombi schon jetzt als „Kenia-“ oder „Kabul-Koalition“ verspottet) wenig bis nichts. In der Migration – eine Aufgabe, die nur mit großer Konsequenz, aber nicht mit einem Wünsch-dir-was-Schiebeschalter gesteuert werden kann – schon mal gar nicht, aber auch in den Industrie und Wirtschaftspolitik sollte man nichts substantielles erwarten. Und der Druck im Kessel, der steigt weiter.
Diesen Stillstand, der für Deutschland hier zur Unzeit kommt, kann man bedauern, aber: Er ist kein Systemfehler, wie vielleicht manche geneigt sind zu glauben, sondern Ausfluss der demokratisch legitimierten Mehrheiten im Wahlvolk. Ein „Stabiles weiter so“ haben wir bekanntlich schon länger. Man kann das mögen oder nicht, aber zu akzeptieren ist es.
Dass sich nicht viel ändern wird, ist also spezifischer Ausfluss des Denkens der Mehrheit – deutlich sichtbar anders z.B. die USA. Daher, liebe Leserschaft, bedenken Sie, der dümmste Spruch, den man in einer Demokratie öffentlich sagen darf, ist „Wenn Wahlen etwas ändern würden, dann wären sie verboten.“

Das Gegenteil ist richtig. Denn in Deutschland werden wie in den meisten anderen Ländern auch die Weichen wo gestellt? Richtig: an der Wahlurne! Deshalb hier Kassandras Aufruf an alle: wählen gehen!
Kassandra hat vergangene Woche im Rathaus ihrer Heimatstadt ihre staatsbürgerliche Pflicht – mit großer Ergriffenheit natürlich – bereits erfüllt.
Das zur heutigen Headline anregende Kulturstück findet sich hier, kritische Anmerkungen dazu hier.

PS nochmal kurz zurück zu den ersten Kommentaren: In diesen Monaten lief in Kopenhagen eine Ausstellung, wie sie besser zu der Zukunft, die im schlechtesten Fall auf Europa zukommt, nicht besser passen könnte. Zu Gast im dänischen Statens Museum for Kunst niemand Geringers als die große Käthe Kollwitz:

Kassandra wiederholt ihr Axiom von vergangener Woche: Lieber ein schlechter Frieden als ein guter Krieg. Wenn Sie das anders sehen, gern, aber hier der Rat: Fliegen Sie nach Kopenhagen und besuchen Sie die Ausstellung. Oder gehen Sie gleich selbst an die Front.