Kaum eine Rentendiskussion in Deutschland, in der unsere Politiker nicht vom „Rentenvorbild Schweden“ fabulieren. In der Tat läuft vieles im Norden besser, nicht zuletzt in der Altersvorsorge. Das heißt aber noch lange nicht, dass es die Schweden nicht auch ihre ganz eigenen Probleme in ihrem Pensionssystem haben. Und irgendwie kommen sie einem dann doch irgendwie bekannt vor. Aus Stockholm berichtet Reiner Gatermann – über Steuerzuschüsse, über steigende Grundrenten, einen Respektabstand und mehr …
Der wichtigste Bestandteil des dreistufigen schwedischen Rentensystems, die Allgemeine Rente, gerät immer mehr in die Kritik. Seine Grundregel, dass es eine autonome Institution unabhängig vom Staatsbudget sein soll, wird immer häufiger in Frage gestellt. Das sorgt für Unruhe, denn auf der politischen Seite geschieht nichts, um das Grundprinzip zu schützen. Im Gegenteil, die Politik ist der Verursacher des Problems. Und die Stimmen des Unmuts werden lauter.
Just dieser Tage geriet die schwedische Altersvorsorge mit der Veröffentlichung einer umfassenden Analyse des Systems durch die Rentner-Organisation SPF Seniorerna wieder in den Fokus der öffentlichen Debatte. Denn deren Kernergebnis lautet:
„Für drei von vier lohnt es sich nicht, für die eigene Rente zu arbeiten.“
Statt finanziell unabhängig vom Staat zu sein, kommen heute bei einer Durchschnittsrente von monatlich rund 15.500 Skr (1.354 Euro) satte 24% aus der Staatskasse, Tendenz steigend.
Vor dem Zusammenbruch?
SPF Seniorerna überschreibt den Bericht mit „Ein freistehendes Rentensystem – auf losem Grund?“. Die Verbandsvorsitzende Eva Eriksson wurde bei dessen öffentlicher Vorstellung noch deutlicher: „Das Rentensystem ist ein schiefer Turm von Pisa – auf dem Weg zusammenzubrechen“. Von dem Grundprinzip, dass die während eines Arbeitslebens, rund 40 Jahre, entrichteten Beiträge reichen sollen, um auch im Ruhestand einen angemessenen Lebensstandard halten zu können, entferne man sich immer mehr.
In dem Bericht stellt Anna Eriksson, die Verfasserin, fest: „Für drei von vier heutigen und kommenden Rentnern lohnt es sich nicht, für die eigene Rente zu arbeiten. Dies beruht vor allem auf der Erhöhung der Garantierente, während die Allgemeine Rente nicht verstärkt wurde.“
Der sog. Respektabstand, die Differenz zwischen dem „erarbeiteten“ Ruhegeld und der Garantierente, die ausschließlich vom Staat finanziert wird, sei „erheblich geschrumpft“.
Eine Folge davon ist, dass immer mehr Rentner, heute sieben von zehn, einen Zuschuss aus der Garantierente beziehen. Diese beträgt 2025 für eine alleinstehende Person bis zu 11.907 Skr (1.040 Euro) pro Monat und für Verheiratete bis zu 10.780 Skr (941 Euro) pro Person. Die Zahl der Empfänger ist von 2019 bis 2024 um 86% auf 1,12 Mio. Menschen gestiegen, parallel dazu die Kosten für den Staat von 13,3 Mrd. Skr (1,16 Mrd. Euro) auf 34,4 Mrd. Skr (3 Mrd. Euro).
Rentenerhöhung: 1 versus 9
Die jährliche Anpassung basiert auf unterschiedlichen Kriterien, was sich vor allem in diesem Jahr nachteilig für die Rentner erwies, die nichts aus der Garantierente beziehen; ihr Ruhegeld erhöhte sich um ein Prozent. Für die Anpassung ihrer Rente ist der reale Einkommenszuwachs ausschlaggebend, für die Garantierente jedoch der Verbraucherpreisindex, was zu einer neunprozentigen Erhöhung der Garantierente führte.
Immerhin: 2025 werden es dort dagegen nur 2,6% sein, während die Zulage bei der Allgemeinen Rente bei 4% liegen wird. Aber nie kam bisher aus politischen Kreisen der Vorschlag, zumindest nicht öffentlich, den seit Mitte der neunziger Jahre unveränderten Beitragssatz von 17,2% zu erhöhen.
„Eine Renovierung des Systems hätte nur einen Bruchteil gekostet.“
All das verwundert auch deswegen, weil die Zahlungen aus der Staatskasse zur Unterstützung des allgemeinen Rentensystems, die es ja eigentlich gar nicht geben dürfte, ständig zunehmen. Derzeit sind es jährlich ungefähr 30 Mrd. Skr (2,6 Mrd. Euro), dazu die Garantierentenerhöhungen mit 20 Mrd. Skr (1,7 Mrd. Euro). Gleichwohl: Im Vergleich zu dem achtmal größeren Deutschland, dass aber bereits ca. 115 Mrd. Euro Steuerzuschuss in seine gRV pumpt, sind das geradezu überschaubare Größenordnungen.
Jedenfalls stellt Håkan Svedman, Rentenexperte der gewerkschaftsnahen Versicherungsgesellschaft Folksam, zu der schwedischen Lage fest: „Eine Renovierung des Systems hätte nur einen Bruchteil dessen gekostet, was heute an Unterstützung aus der Staatskasse kommt.“ Laut Berechnungen von SPF Seniorerna sind dies ungefähr 25 Mrd. Skr (2,2 Mrd. Euro) statt der jetzt gezahlten 50 Mrd. Skr (4,4 Mrd. Euro).
Vorsichtige Anpassungen
Wie dem auch sei, eine „Renovierung“ müsste logischerweise aus der Politik kommen, Vorschläge gibt es etliche, der wichtigste: wie ursprünglich, Mitte der neunziger Jahre anlässlich der umfassenden Rentenreform, angestrebt worden war, den Beitragssatz auf 18,5% festzulegen (es wurden besagte 17,2%). Ein weiterer Vorschlag: Das Rentenalter hinauszuschieben. Ein bescheidener Anfang ist gemacht. 2023 wurde es von 65 auf 66 Jahre angehoben, weitere Erhöhungen sind auf Basis eines komplizierten Berechnungssystems, dem Richtalter, vorgesehen, aber, so Experten, auch damit würde der Ausgangspunkt des Rentensystems, dass 60% des Ruhegeldes aus der Allgemeinen Rente kommen sollen, nicht erfüllt werden. Heute sind es nur noch 44% (Deutschland gem. doppelter Haltelinie: 48% vor Steuern).
Trifa Chireh, Rentenexpertin der Versicherungsgesellschaft Länsförsäkringen, stellt in einem Zeitungsinterview fest: „Das schwedischen Rentensystem steht auf einer stabilen Basis, aber es muss den Veränderungen in der Gesellschaft folgen. Um sicherzustellen, dass das System immer auf der Seite derer steht, die arbeiten, ist es Zeit für eine durchgreifende Reform aller ihrer Bestandteile.“
„Gilt das Prinzip eines vom Staat unabhängigen Rentensystems noch?“
In der öffentlichen Diskussion deuten alle Finger auf die Politik. Schon vor ein paar Monaten richtete Ole Settergren, Chefanalyst des Rentenamtes, scharfe Kritik, als er sagte: „Der Zerfall des Rentensystems kann eindeutig auf die in den letzten beiden Jahren getroffenen politischen Beschlüsse zurückgeführt werden.“
Eva Eriksson stellt die Frage, „ob das Prinzip eines vom Staat unabhängigen Rentensystems noch gilt?“ Sie beschreibt die heutige Situation als einen „Flickteppich“. Und wie reagiert die Politik? Dort wird in allgemein gehaltenen Worten versichert, das Grundprinzip gelte weiter. Die konservative Sozialversicherungsministerin Anna Tenje sagte der Tageszeitung Svenska Dagbladet, es müsse im Rentensystem deutlicher werden, dass es sich lohne zu arbeiten, der Respektabstand müsse wachsen, und auf die Frage, ob der Beitrag erhöht werden sollte, sagt sie: „Darauf mit Ja zu antworten, würde das Ergebnis einer Untersuchungskommission vorwegnehmen. Es ständen auch noch andere Möglichkeiten zur Verfügung. Wir werden sehen, wo wir landen…“
„Man will einer amtierenden Regierung keinen Kredit dafür geben will, das Problem gelöst zu haben.“
Håkan Svärdman sieht eine ganz andere Ursache für die zumindest nach außen kaum sichtbare Aktivität in der Rentenfrage und wirft den Blick auf die „Rentengruppe“ des Reichstages (Parlament). Ihr gehören sämtliche im Reichstag vertretenen Parteien an, Beschlüsse können nur einstimmig gefasst werden. Svärdman: „Ich glaube, eventuelle Vorschläge für Lösungen werden gestoppt, weil man einer amtierenden Regierung keinen Kredit dafür geben will, das Problem gelöst zu haben.“
Fazit: Die Probleme und Diskussionen, die man als Beobachter in Stockholm im schwedischen Rentensystem beobachtet, gleichen frappierend denen in Deutschland – wenn auch mit sichtlich geringer Brisanz. In Deutschland wäre man froh und dankbar, wenn man es nur mit den Herausforderungen zu tun hätte – quantitativ wie qualitativ – von denen Schweden steht. Von Norwegen ganz zu schweigen.
Reiner Gatermann ist Deutscher, lebt und arbeitet aber seit rund fünf Jahrzehnten in Stockholm und war von 1980 bis1985 und von 1999 bis 2007 (dazwischen in London) der Nordeuropa-Korrespondent der Tageszeitung Die Welt.
In der Reihe Stockholm Live von Reiner Gatermann sind bisher aufPENSIONS●INDUSTRIES erschienen:
Stockholm Live (VI): Stockholm Live (V): Stockholm Live (IV): Stockholm Live (III): Statens årskullsförvaltningsalternativ (II): Statens årskullsförvaltningsalternativ (I):
Der schiefe Turm von Stockholm
von Reiner Gatermann, Dezember 2024
„Gimme, gimme gimme my Tax“
3. Juni 2024
Nordische Kombination
12. April 2024
„All das deutet in die falsche Richtung“
1. März 2024
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19. September 2022