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Neu auf PENSIONS●INDUSTRIES – Stockholm Live (I):

„All das deutet in die falsche Richtung“

Schweden gilt in Deutschland und Europa oft als Vorbild, namentlich in der Altersvorsorge. Doch in Butter ist längst nicht alles. Ein hoher Beamter fährt mit scharfen Worten Attacken gegen die Politik – und als eine Ursache des Problems identifiziert er, was man in ähnlicher Form aus Deutschland kennt: Sozialpolitiker, die Sozialleistungen verteilen. Für PENSIONSINDUSTRIES berichtet live aus Stockholm Reiner Gatermann.

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Es ist drei Jahrzehnte her, dass Schweden als ein Resultat des wirtschaftlichen Zusammenbruchs ein völlig neues Rentensystem schuf und damit auch im Ausland, darunter Deutschland, viel Respekt, Beifall und Anerkennung fand. Die Kernpunkte: Ein direkter Zusammenhang zwischen eingezahlten Prämien und ausgezahlter Rente, außerdem die gesetzliche Festlegung, dass die einkommensbasierte Rente nicht aus Steuergeldern unterstützt werden darf, und schließlich eine veränderte Berechnungsgrundlage: Statt bisher die 15 besten Einkommensjahre gilt nunmehr das Lebenseinkommen als Berechnungsgrundlage.

Nun, das ist dreißig Jahre her.

In zwei Jahren drei Dekaden ausradiert?

Mittlerweile stellt Ole Settergren, Chefanalyst des Rentenamtes, in einem im März 2023 der schwedischen Regierung vorgelegten Bericht (nicht zum ersten Mal) jüngst unverblümt fest: „Das System ist unnötig kompliziert und unnötig teuer für den Steuerzahler.“ Es sei auf dem Weg zu zerfallen, und Settergren will auch die Ursachen kennen: „Der Zerfall kann eindeutig auf die in den letzten beiden Jahren getroffenen politischen Beschlüsse zurückgeführt werden.“

Ole Settergren, Pensionsmyndigheten.

Harter Tobak von einem Beamten, der seine Auftraggeber, die Politiker, als Zerstörer eines einst als vorbildlich und stabil gefeierten Modells der Altersversorgung hinstellt. Aber Settergren folgt damit nur seinem Auftrag:

 

 

Es ist an der Zeit, zu untersuchen, ob Schweden das ’richtige‘ System hat.“

 

 

Laut Parlamentsbeschluss ist es die Aufgabe des Rentenamtes – der „Pensionsmyndigheten“ – die Auswirkungen des Systems auf die Individuen und auf die Gesellschaft zu analysieren und zu untersuchen, ob es den ursprünglichen Intentionen gerecht wird und die erwartete Effektivität erzielt. Und da ist der rentenamtliche Chefanalyst zu dem Schluss gekommen, dass es an der Zeit sei, „zu untersuchen, ob Schweden das ’richtige‘ System hat“ (mehr zur Struktur des schwedischen Rentensystems – auch zur Rolle des in Deutschland oft bemühten AP7 – findet sich auf PENSIONSINDUSTRIES in einem zweiteiligen Beitrag hier).

Tut etwas – oder lasst es!

Für Settergren liegt die Antwort auf der Hand: „Das System flattert bedenklich.“ Und wer kann es wieder stabilisieren? Gegenüber PENSIONSINDUSTRIES stellt Johan Andersson, Pressesprecher des Rentenamtes, fest: „Als Behörde haben wir keine eigene Auffassung, welches System Schweden haben sollte. Wir haben gesagt, was wir meinen. Jetzt liegt es an den Politikern zu agieren – oder nicht.“

Fatale Wohltaten

Laut Settergren hat die Unterminierung vor etwa zwei Jahren begonnen, als unter einer sozialdemokratisch geführten Regierung die „heiligen Grundprinzipien“, die direkte Koppelung zwischen eingezahlten Prämien und ausgezahlter Rente, gelockert wurden.

Dies geschah einmal 2020 durch die Anhebung der „Garantipension“ (eine Art Grundsicherung), erstmals seit Einführung des neuen Systems, um 200 Kronen p.M. (etwa 17 Euro) und nochmals im August 2023 um weitere 1.000 kr (87 Euro). Schließlich gab es 2021 noch eine so genannte Rentenzulage („Inkomstpensionstillägg“) mit höchstens 600 kr (52 Euro) p.M.

Mehr für die Hälfte

Anspruch auf diese Garantipension haben jeder schwedische Bürger und jede Bürgerin, die kein ausreichendes Lebenseinkommen erreicht haben. Der Höchstbetrag liegt derzeit für Alleinstehende bei 10.623 kr (929 Euro) pro Monat. Ab einer Monatsrente von 16.177 kr (1.415 Euro) gibt es keinen Zuschuss aus dieser Grundrente mehr.

Diese Rentensteigerungen der Garantipension, heute sämtlich finanziert aus der Staatskasse, haben zur Folge, dass 2024 rund die Hälfte aller schwedischen Rentner einen Zuschuss von der öffentlichen Hand erhält. Wie hieß es doch vor dreißig Jahren: Das Rentensystem darf nicht über Steuern finanziert werden. Aber dies traf ja damals schon nicht auf die Garantierente zu. Allein 2022 brachte Schweden mit seinen gut 10 Mio. Einwohnern für die Garantierente 17,4 Mrd kr (etwa 1,5 Mrd. Euro) auf, Tendenz steigend: Die Prognose für 2023 liegt bei 26,2 Mrd. kr (ca. 2,3 Mrd. Euro).

Einerseits Schere der anderen Art …

Hinzu kommt eine andere Fatalität: Während sich die Allgemeine Rente am realen Einkommenszuwachs orientiert, gilt für die Garantipension der Verbraucherpreisindex.

Das wird 2024 dazu führen, dass die Allgemeine Rente lediglich um 1% (2023 3%) wachsen wird, während die Garantierentenempfänger mit etwa 9% rechnen können. Hier wird vielleicht etwas deutlich, was auch die deutschen Gewerkschaften genau lesen sollten:

andererseits tarifliche Zurückhaltung

In Schweden haben sich Gewerkschaften und Arbeitgeber für 2024 und 2025 auf eine Lohn- und Gehaltssteigerung von insgesamt etwas mehr als 7% geeinigt, davon entfallen 4,1% auf dieses Jahr. Dies vor dem Hintergrund der hohen Inflation, die man nicht mit hohen Lohn- und Gehaltssteigerungen noch weiter anheizen wolle. Auch Schweden hat seine Erfahrungen mit extremen Preissteigerungen.

Deswegen: Keine Rede von Inflationsausgleich. Aber was Chefanalyst Settergren angesichts der derzeitigen Entwicklung in der Altersversorgung befürchtet, ist: Bald könnten Garantierente und andere Sozialleistungen (z.B. Wohngeld) genauso hoch sein wie das auf ein Lebenseinkommen basierende niedrigste Altersgeld (eine gewisse Analogie zum deutschen Sozialsystem drängt sich auf). Settergren: „All das deutet in die falsche Richtung.“

In die gleiche Kerbe schlägt Eva Eriksson, Vorsitzende einer der beiden größten Rentnerorganisationen, SPF Seniorerna: „Verlierer ist das Rentensystem und dessen Grundgedanke eines auf dem Einkommen basierenden Systems, in dem der Arbeitseinsatz das Rentenniveau bestimmt.“

Eva Eriksson, SPF Seniorerna.

Sie appelliert an die Politiker, unmissverständlich zu erklären, was für ein System sie haben wollen. „Dann kann man das präsentieren, mit den Wählern diskutieren, um dann eventuelle Beschlüsse zu fassen,“ sagte sie in einem Interview mit „Tidningen Näringslivet“ („Die Zeitung der Wirtschaft“), das Organ der mittelgroßen Unternehmen.

Der eigene Teich ist der Ozean

Den Hauptgrund für diese fatale Entwicklung sieht Settergren in einer – fast – typisch schwedischen Charaktereigenschaft, diesmal auf die Politiker bezogen: Sich selbst an die Brust zu klopfen und sich als die Besten der Welt zu sehen.

 

Ihren Stolz hätten sie besser für sich behalten.“

 

Settergren: „Das Rentensystem wurde vor 30 Jahren eingeführt, und seitdem stolzieren die Politiker, die damals dies beschlossen haben, herum und protzen damit, das weltbeste Rentensystem, das sich selbst finanziert und auf dem Lebenseinkommen basiert, beschlossen zu haben. Dieser Stolz war nicht so angebracht, sie hätten ihn besser für sich behalten, anstatt ihn in die Welt hinauszuposaunen.“ Man stelle sich kurz vor, ein Spitzenbeamter der DRV würde sich so öffentlich äußern.

Eine für alle?

Der Beamte hat auch zwei Alternativen, wie das System den heutigen Realitäten angepasst werden könnte: Einmal könnte eine Grundrente für alle eingeführt werden, die sowohl die allgemeine einkommensbezogene als auch die Garantierente ersetzt. Settergren beschreibt diese Lösung selbst als „radikal“. Nur noch die Betriebsrente und die private Altersvorsorge basierten in diesem Fall auf dem eigenen Lebenseinkommen.

Oder Krone gegen Krone?

Zum anderen könnte das heutige einkommensbezogene System erhalten bleiben, aber dann müsste ein neue Garantierente geschaffen werden, „in dem Krone für Krone gegen die einkommensbasierte Rente aufgerechnet wird.“ Damit meint er, dass der Abstand zwischen Garantie- und Allgemeiner Rente etwa auf das Niveau wie vor 2020 wiederhergestellt werden müsse.

Im Reichstag …

Diese Entscheidung braucht Settergren nicht zu treffen, sie liegt alleine bei den Politikern, und vor allem bei der Rentengruppe, der „Pensionsgruppen“ des schwedischen Parlamentes, dem „Riksdag“. Sie wurde 1994 gegründet und soll in Einigkeit über alle Rentenfragen beraten und beschließen, die endgültige Entscheidung fällt dann im Reichstag. Der Gruppe gehören seit Mitte Oktober 2023 sämtliche im Parlament vertretenen Parteien an.

neuer Druck von rechts

Obwohl seit 2010 im Reichstag vertreten und inzwischen nach den Sozialdemokraten zweitstärkste Fraktion, wurden die sog. Schwedendemokraten, in etwa vergleichbar mit der deutschen AfD, von den meisten der übrigen Parteien nicht für adäquat empfunden, um in diesem exklusiven und „wichtigen“ Kreis einbezogen zu werden.

Der schwedische Reichstag in Stockholm. Foto: Baz.

Doch der Wind hat sich gedreht, und er kommt von rechtsaußen: Seit November 2022 sind die Schwedendemokraten um Chef Jimmy Åkesson fester Bestandteil der schwedischen Politik. Auch wenn sie – noch – nicht auf der Regierungsbank sitzen, so läuft in der schwedischen Regierungspolitik doch nichts ohne ihren Segen, denn ohne die „Sverigedemokraterna“ verfügt die konservativ-liberale Regierung im Reichstag über keine Mehrheit.

Nun, trotz der jetzt vollen Besetzung der Rentengruppe und dem Umstand, dass Settergrens Kritik und Vorschläge seit März 2023 auf dem Tisch liegen, hat man in der schwedischen Politik und Öffentlichkeit was von ihr gehört? Erstaunlich wenig. Die Politiker – die sich vermutlich in der Rentengruppe nicht einig sind – äußern sich praktisch nicht, und die Medien berichten zwar, haken aber kaum nach. Lediglich einige Verbände fordern endlich Reformen. Allerdings entspricht es auch der schwedischen politischen Kultur, dass knifflige Fragen oft ohne viel Getöse verhandelt werden.

Ohnehin beschäftigt die schwedische mediale Öffentlichkeit derzeit etwas ganz anderes: der Fall Alecta. Dazu beizeiten mehr auf PENSIONSINDUSTRIES.

Die Zurückhaltung der Politik gilt offenbar auch gegenüber dem Rentenamt. Deren Sprecher Andersson zu PENSIONSINDUSTRIES: „Wir haben bisher keine Reaktion bekommen – das ist Teil unserer Arbeit. Das Parlament muss entscheiden, was es mit unserer Auffassung machen will – nicht die Behörde.“

Reiner Gatermann.

 

Der Autor ist Deutscher, lebt und arbeitet aber seit rund fünf Jahrzehnten in Stockholm und war von 1980 bis1985 und von 1999 bis 2007 (dazwischen in London) der Nordeuropa-Korrespondent der Tageszeitung Die Welt.

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