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Die kommentierte Presseschau zur bAV:

Kassandra

Regelmäßig freitags bringt LEITERbAV eine kommentierte Presseschau zur bAV.

Heute: Ausblick auf den September – Deutschlands alte und neue Parlamentsarithmetik.

 

 

Neue Zürcher Zeitung (14. Mai): „In Deutschland rückt die linke Republik näher.“

 

Zitat aus dem Artikel:

 

Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass nach den Bundestagswahlen im September die Grünen, die Sozialdemokraten und die Linken eine stabile parlamentarische Mehrheit haben werden.“

 

R2G, bzw. treffender GR2, im Deutschen Herbst 2021? Nun, da könnte er recht behalten, der Deutschland-Korrespondent der NZZ in Berlin. Doch sehen wir genauer hin:

 

Die deutscheigene Arithmetik …

 

An sich galt für Deutschland seit acht Jahren eine zwar weithin unbekannte, aber sehr eigene Parlaments-Arithmetik: Bei sechs Fraktionen im Bundestag (Linke, Grüne, SPD, FDP, CDU/CSU, AfD) ist es für eine linksgrüne Koalition unmöglich, eine eigene Kanzlermehrheit gegenüber drei Oppositionsparteien zu erreichen.

 

Denkbar war das nur bei vier Parteien im Parlament (also bei einem Scheitern von AfD und FDP): Denn allein gegen drei linke Parteien im Parlament – von denen immer mindestens eine, manchmal zwei bärenstark sind – hat umgekehrt die Union keinerlei Aussicht, die absolute Mehrheit zu erreichen. Diese fällt dann umgekehrt der 3poligen Gegenseite zu. Exakt diese Situation hatte Deutschland im Bund übrigens in den Jahren 2013-2017, als es AfD und FDP nicht ins Parlament schafften. Dass es damals keine rotrotgrüne Bundesregierung, sondern eine große Koalition gab, lag einzig daran, dass Sigmar Gabriel die Chuzpe dafür fehlte (dies wird der SPD niemals wieder passieren, dazu unten mehr).

 

gilt nicht mehr

 

Doch diese Parlamentsarithmetik gilt 2021 nicht mehr. Die strategische Falle, in der die Union sitzt – zurückgehend auf ihre spitzenpersonalpolitischen Fehlentscheidungen seit Anfang des Jahrtausends und angesichts der für die Union mal wieder katastrophalen LTW Anfang 2020 hier von Kassandra erneut en Detail analysiert worden – hat sich nun in realer Schwäche manifestiert (noch verstärkt durch den offenkundigen Mangel an taktischer Raffinesse ihres gegenwärtigen Spitzenpersonals, vorneweg im Süden Deutschlands).

 

Diese Schwäche führt dazu, dass erstens alle anderen Parteien außer der Linken davon profitieren (v.a. die oft totgeglaubte FDP), zweitens damit ein Scheitern von FDP und AfD (es sei denn, diese spaltet sich vor der Wahl noch) an der 5%-Hürde ausgeschlossen werden kann und wir im Herbst also erneut sechs Fraktionen im Parlament haben.

 

Das gibts doch gar nicht!

 

Drittens und am bedeutsamsten gilt jedoch, dass die strategische und taktische Schwäche der Union derart gravierend ist, dass GR2 selbst bei sechs Fraktionen im Parlament eine eigene Kanzlermehrheit erzielen könnte – und das war bisher völlig undenkbar. Das bedeutet die reale Chance auf eine strategische Mehrheit links der Mitte gegen drei Oppositionsparteien – etwas, das es in der Bundesrepublik noch nie gab und das es auch in der von heute eigentlich gar nicht geben kann. Es ist wirklich bemerkenswert, in welcher Dimension der Union die Selbstverzwergung gelungen ist.

 

Maaßen

 

Am Rande: Nicht von strategischer, aber doch von taktischer Bedeutung ist der Antritt Hans-Georg Maaßens für die Union. Denn dieser wird sie ein paar Stimmen kosten, aber auch bescheren: Auf ihrem linken Flügel dürfte sie einige Wechselwähler an Grüne, SPD und FDP verlieren, auf ihrem rechten einige von der AfD gewinnen; Größenordnungen unklar.

 

Erster Verlierer des Antritts von Maaßen ist also die AfD (zu deren Lasten übrigens auch die Gründung neuer Parteien wie Die Basis gehen dürfte). Aber wie gesagt, wenn sie sich nicht doch noch entlang der Bruchlinie Meuthen-Höcke spaltet, dürfte ihr der Wiedereinzug gelingen. Unterm Strich profitiert von dem Antritt Maaßens jedenfalls v.a. GR2, erstens quantitativ durch die Wechselwähler von der Union, zweitens hat sie mit ihm ein leichtes Ziel in der Debatte. Ob diese Zusammenhänge Maaßen bewusst sind, ist nicht bekannt.

 

Das Chamäleon in der Mitte

 

Zu den Grünen selbst: Politisch sind sie beweglich wie keine zweite Partei in Deutschland, mehr noch als die FDP, die bekanntlich diesbezüglich kein Kind von Traurigkeit ist. Vom starklinken Dominator einer GR2-Koalition bis hin zum nahtlos harmonierenden Juniorpartner einer bürgerlich-liberalen Jamaika-Koalition – und alles dazwischen – können die Grünen heute jede politische Rolle mit Leben füllen, welche das Wahlergebnis ihnen zudenkt. Damit sprechen sie die verschiedenen Schichten in der Bevölkerung in einer Breite an wie niemand anders. Sie sind auch neben der siechenden SPD die einzigen, die mit dem gesamten Spektrum im Bundestag (außer der völlig isolierten AfD) koalieren können. Damit sitzen sie politisch mittig wie keiner ihrer Wettbewerber – und sind dabei in beide Richtungen sperrangelweit offen. Und schließlich sind sie die einzige Partei, die bei dem von allen Parteien massiv getriebenen Klimathema eine tief verwurzelte, intuitive Positionierung in der Bevölkerung hat. Und je mehr das Klima von Söder & Co. auf die Tagesordnung der Alternativlosigkeit gesetzt wird, desto überproportionaler profitieren die Grünen davon, und nur die. Ob man das in der bayerischen Staatskanzlei noch merken wird? Unklar.

 

Kein Verlierer-Gen feststellbar

 

Übriges fühlen sich bei dem gegenwärtigen Momentum von Annalena Baerbock und den Grünen viele nicht zu unrecht an den seinerzeitigen, völlig fehlgehenden Medien-Hype um Martin Schulz erinnert, dessen erbärmliches Scheitern mit Ansage in der Geschichte der Bundesrepublik wohl ohne Beispiel ist.

 

Doch Obacht! Baerbocks Partei ist wie dargelegt viel zentraler, breiter und zeitgemäßer aufgestellt als die SPD. Baerbock selbst – wenn auch nicht unbedingt Intellektualität ausstrahlend – sieht ansprechend und modern aus, operiert geschickt, lernt schnell und ständig – und v.a. fehlt ihr eines völlig: das typische Verlierer-Gen.

 

3x was wir wissen

 

Wie dem auch sei, auch Kassandra hat keine Kristallkugel und kennt nicht den Ausgang der Wahl an sich. Doch folgendes kann man – Stand heute – als gesetzt ansehen:

 

Erstens: Die Anzahl der Fraktionen im nächsten Deutschen Bundestag wird erneut bei sechs liegen: Zwei linke, ein Chamäleon, zwei bürgerliche und eine isoliert-rechte – mit allen Folgen für die Parlamentsarithmetik (am Rande: Die Linke könnte zwar unter 5% fallen, dürfte aber im Osten Berlins weiter drei Direktmandate erzielen und damit gleichwohl gemäß ihren Zweitstimmen in den BT einziehen. Wenn nicht, wird es sehr eng für GR2 bzw. GR allein).

 

Zweitens: Die Grünen können angesichts der geschilderten Lage bequem auf Zeit spielen. Sie müssen bis zum Herbst eigentlich gar nichts tun, nur abwarten und aufpassen, keinen schweren Fehler zu machen. Die anderen machen schon genug (dass die Grünen die Causa „Mallorca-Flüge“ selbst auf die Tagesordnung setzen, zeigt aber, dass sie sich ihrer Sache vielleicht zu sicher sind, und Hochmut kommt bekantlich vor dem Fall). Jedenfalls ist für den September praktisch kein ernsthaftes politisches Szenario denkbar, bei dem die Grünen NICHT in die Regierung eintreten. Wie es auch immer kommen mag, sicher ist: Annalena Baerbock und Robert Habeck werden – in welcher Funktion auch immer – in der nächsten Legislatur auf der Regierungsbank Platz nehmen!

 

Drittens: Sollte es eine rechnerische Mehrheit für GR2 geben, dann wird diese Konstellation – völlig egal, welche anderen Koalitionen für die Grünen möglich wären – auch Regierungsrealität werden; nicht mehr und nicht weniger. Für die Grünen ist GR2 bei aller Dehnbarkeit die ideologisch nächststehende Option, und das Kanzleramt wäre ihnen auch sicher. Für die Linken ist GR2 die einzige Machtoption überhaupt, so dass sie sichtlich kompromissbereit sein dürften. Für die SPD gilt gleiches; und wer an das Gerede mancher Kommentatoren glaubt, dass eine Scholz-SPD allen ernstes irgendeine Hemmung hätte, mit den Linken zu koalieren (wegen NATO-Mitgliedschaft oder was auch immer), sollte sich fragen, in welcher Realität er lebt. Fakt ist: Geht GR2, dann kommt auch GR2. Punkt!

 

Und was hieße GR2 für die bAV? Das, was Kassandra für den Fall schon lange vorhersagt und was GR2 wohl schon in der ersten Legislatur anfassen dürfte:

 

– Konzentration der Altersvorsorge auf die erste Säule auch zu Lasten der bAV, Ausdehnung der Kompetenzen und Möglichkeiten der gRV (bspw. freiwillige Zusatzbeiträge, zwangsweise Einbeziehung von Selbständigen, Anhebung, ggf. gar Abschaffung der BBG).

 

– In der bAV selbst Ausbau der Pflichten der Arbeitgeber, außerdem keine Korrektur der 6a-Problematik (wenn nicht vom BVerfG erzwungen).

 

– Unmittelbare Abschaffung der privaten Krankenversicherung, Übertragung der Altersrückstellungen in eine neue Bürgerversicherung, später dann Beitragsbemessung über alle sieben Einkunftsarten ohne BBG.

 

– Rasche Aufgabe des Restwiderstandes gegen die Einrichtung europäischer Haftungsgemeinschaften, bspw. in der Arbeitslosenversicherung.

 

Die Konfiszierung der Altersrückstellungen in der PKV geschähe dabei sicher nicht heute und morgen, aber vermutlich noch während der ersten Legislatur. Und mit der Enthauptung der PKV und der Vergesellschaftung ihrer Altersrückstellungen wäre mehr als nur ein Präzedenzfall geschaffen; es wäre geradezu die Vorzeichnung des Weges, der auch in der Altersversorgung gegangen werden könnte, wenn die politischen Mehrheiten sich als nachhaltig herausstellen. Denn wenn eine Vergesellschaftung individueller oder kollektiver, aber privater Vorsorgemittel durch Transfer in das gesetzliche System im Gesundheitswesen „funktioniert“ hat, warum nicht auch in der Altersvorsorge?

 

Alles Schwarzmalerei? Keineswegs. Beispiel PKV: Die Linkspartei fordert regelmäßig deren Überführung in die gKV, und jüngst erst hat sie ihre Forderung erneuert, dass Riester-Vermögen (hier noch freiwillig) in die GRV überführt werden kann. Und Fälle der Vergesellschaftung von privat-betrieblichem Pensionsvermögen in gesetzliche hat es in mehreren EU-Staaten schon gegeben. Zu hoffen, dass hier am Ende ein Bundesverfassungsgericht dem Einhalt gebiete, wäre gefährlich naiv.

 

 

Bundesverfassungsgericht (18. Mai): Erfolglose Vollstreckungsanträge zum Urteil des Zweiten Senats zu dem PSPP-Anleihekaufprogramm der EZB.“

 

Apropos BVerfG: Wegen der maßgeblichen Bedeutung der Geldpolitik (v.a. QE) für die Zinsentwicklung, damit für alle Asset-Klassen und damit auch für die bAV beäugt Kassandra die Geldmengenausdehnung seit 2007 mit Skepsis – und hat daher auch intensiv über das spektakuläre Urteil des BVerfG vom Mai 2020 berichtet – und auch darüber, dass sie das Urteil für von den Verantwortlichen faktisch ignoriert hält.

 

Das sahen manche der seinerzeitigen Kläger wohl ähnlich – und wandten sich mit Vollstreckungsanträgen an das Gericht. Dieses wiederum konnte keinerlei Handlungsbedarf erkennen. Ergo gilt für die euroländische, exponentielle Geldmengenausdehnung zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit: Grünes Licht aus Karlsruhe!

 

Kassandra bei der Arbeit.

 

 

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