Unregelmäßig freitags bringt LEITERbAV eine kommentierte Presseschau zur bAV.
Heute: Von vertauschten Rollen und dem Quell der Bürokratie…
bAVheute (11. April): „Ab 1.8.2022: Mehr Papier in der bAV – Digitalisierung, Nein Danke.“
Henriette Meissner, bAV-Chefin der Stuttgarter (und zuweilen auch Gastautorin auf LEITERbAV) legt den Finger auf eine alte Wunde der bAV – die Bürokratie; und das aus aktuellem Anlass. Denn es zeichnet sich ab, dass Deutschland in der Lage ist, selbst aus der kleinsten europäischen Mücke noch einen bürokratischen Elefanten zu machen. Und schon wieder sind es die Dokumentationspflichten, die – wie in diesem Zeitalter üblich – die sprudelnde Quelle neuer Bürokratie sind.
Nicht, dass die Europäische Union kein Bürokratietreiber wäre, ganz im Gegenteil. Und nicht, dass die Bundesrepublik hier nicht schon oft Schlimmeres verhindert hätte.
Doch in dem von Meissner hier geschilderten Fall sind die Rollen offenbar vertauscht. In aller Kürze:
Aufgrund der EU-Arbeitsbedingungsrichtlinie wird in Deutschland im Sommer das altgediente Nachweisgesetz geändert, das befiehlt, dass alle wesentlichen Arbeitsbedingungen (einschl. bAV) und auch Veränderungen derselben schriftlich niederzulegen sind. Kaum zu fassen: Die elektronische Dokumentation ist sogar ausdrücklich ausgeschlossen, die Papierform befohlen. Glücklicherweise haben sich offenbar immer weniger Unternehmen an das Gesetz gehalten.
Doch nun will die Bundesregierung laut Regierungsentwurf die Gelegenheit offenbar nutzen, Verstöße gegen das Elend mit 2.000 Euro Bußgeld zu belegen. Folge: Arbeitgeber werden in Kürze neue Papierberge produzieren (und auch dies wiederum dokumentieren müssen), und das auch noch für die Vergangenheit.
Abgesehen davon, dass das mit ökologischer Nachhaltigkeit nun wirklich gar nichts zu tun hat, fragt man sich zuweilen, ob die Politik die Digitalisierung der Republik der unsterblichen Fax-Geräte mit aller Gewalt verhindern will.
Und als Beifang mitbetroffen mal wieder die bAV – ganz so, also ob diese die Arbeitgeber nicht schon ohnehin mit ausreichend Komplexität belaste.
Angesichts des 15-Prozent-Zuschusses hatte LEITERbAV vor drei Jahren ein Gedankenexperiment vorgeschlagen:
„Man stelle sich vor, man habe eine Gruppe von Arbeitgebern, die über den Ausbau oder die Ersteinführung einer bAV nachdenken, und man wäre aus irgendwelchen Gründen in der Situation, sie hiervon abhalten zu wollen. Man gebe diesen Arbeitgebern einfach die insgesamt vier Beiträge von Cera bzw. Kovac / Herrmann zu lesen, die auf LbAV zu der Frage des 15-Prozent-AG-Zuschusses erschienen sind. Der Erfolg dürfte durchschlagend sein.“
Und sollte es dann immer noch Arbeitgeber geben, welche noch Lust auf bAV haben, dann sollte man die geschilderten Dokumentationspflichten, die Zukunft und Vergangenheit gleichermaßen betreffen und nun bußgeldbewehrt nur auf Papier erfolgen dürfen, draufsatteln. Das dürfte endgültig reichen, dass sich Arbeitgeber das denken, was in der Headline steht.
Die Zeit (21. April): „EZB-Vizechef hält erste Zinserhöhung im Juli für möglich.“
Kassandra hat in den vergangenen Wochen vielfach ausgeführt, warum sie ein Tapering, aber erst recht Zinserhöhungen der EZB mitten im europäischen Krieg für noch unwahrscheinlicher hält als sie für die Vorkriegszeiten getan hat. So sehr die Inflation auch pressiert – politisch ist sie wahrscheinlich leichter auszuhalten als der drohende, zinserhöhungsbedingte Absturz aus der seit 15 Jahren selbst aufgetürmten EZB-Fallhöhe aus drogenabhängigen Staatshaushalten sowie real- und finanzwirtschaftlichen Fehlallokationen.
Die Zeit dokumentiert nun reichlich unbeschwert klingende Stimmen führender EZBler, die meinen, dass in drei Monaten die Zinsen erhöht werden können. Beispiel:
„Ich sehe keinen Grund, warum wir unser Programm zum Kauf von Vermögenswerten nicht im Juli auslaufen lassen sollten“
zitiert die Zeit etwa den EZB-Vizepräsident Luis de Guindos in einem Interview mit Bloomberg. Aus heutiger Sicht sei dann auch eine Zinserhöhung im Juli möglich, so de Guindos weiter laut Bloomberg/Zeit.
Ob der Spanier eine Vorstellung davon hat, was in seinem Heimatland passiert, wenn die EZB die Zinsen erhöht? Mit den dortigen Staatshaushalten? Mit den dort mehr als systemrelevanten Immobilienmärkten? Mit dem ohnehin mickrigen Wirtschaftswachstum? Mit der privaten Verschuldung (dort landestypisch oft mit variablem Zins)? Das spanische Erwachen dürfte bitter werden – und nicht nur das spanische.
Wiederholt sei auch die Frage, wie sich bspw. die Spreads langlaufender Govies nicht nur der südeuropäischen Krisenstaaten, sondern auch des Baltikums oder der Slowakei zu Bunds entwickeln sollen, wenn QE als Finanzierungsquelle wegfällt? Staaten an der Grenze zu Russland und der Ukraine. Wie sollen hier die Spreads in vertretbarem Rahmen bleiben, wenn die Anleger stattdessen Bunds kaufen können? Unmittelbar entstünden hier Zentrifugalkräfte, die der Euro nicht lange aushielte. Trost: Dann hätte man sie endlich, die langersehnte, ultimative Begründung für Eurobonds.
Abgesehen davon können Zinsen natürlich auch ohne bzw. gegen den Willen der Notenbanken steigen. Möglicherweise sehen wir gerade den Anfang dieser Entwicklung. Für diesen Fall gilt dann eines der ältesten Kassandrischen Axiome (erstmals geprägt schon vor fast 9 Jahren):
„Abgerechnet wird, wenn die Zinsen ungeplant steigen“. Denn die Geldmengen, die Christine Lagarde (von Kassandra schon zu Amtsantritt als Madame l’Hélicoptère geadelt) dann in die Hand nehmen muss, um den Kollaps der in 15 Jahren aufgeblasenen staatlichen und privaten Fehlallokationen zu verhindern, werden jedes tolerierbare Maß selbst für duldsamste und gutgläubigste Markteilnehmer überschreiten. Denn wenn hier Dynamik reinkommt, werden die Notenbanken bald sehr schnell immer größere Summen an frischegedrucktem Geld in die Märkte werfen müssen, wollen sie nicht die Implosion der Staatshaushalte riskieren, und je größere Summen sie drucken, desto größer wird die Dynamik und so weiter und so fort…
OFF TOPIC – TO WHOM IT MAY CONCERN:
Focus Money (19. Februar): „Kriegstreiberei macht Russland bedrohlich, dabei erodiert Putins Macht von innen.“
Kluger Artikel im Focus über die Probleme Russlands, die nicht der NATO zugeschoben werden können. Der Beitrag nennt einige der schweren Defizite, unter denen das Land leidet: Mini-Wirtschaftskraft, Rohstofflastigkeit, demographisch alt und älter, institutionell schwerfällig, kaum Rechtssicherheit für Investoren und Entrepreneure usw usf…
Alle europäischen Staaten sind geostrategische Krüppel (demographisch, geldpolitisch, aber auch ökonomisch, technologisch und militärisch). Doch Obervolta-Russland gehört hier seit jeher zu den besonders schwer erkrankten Kandidaten.
In Kassandras Worten klang das in dem Tannhäuser-Artikel so:
„Russland befindet sich schon lange in der geostrategischen Agonie – demographisch rapide vergreisend, BIP von der Größe Spaniens, ohne echte freundschaftliche Beziehungen zu anderen Mächten, mannigfaltige Krisenherde besonders vor der südlichen Haustür an seinem weichen zentralasiatischen „Bauch“ – und jetzt auch noch als Paria international komplett isoliert und in der Ukraine mit einer möglichen militärischen Dauerbaustelle konfrontiert, gegen die das in den 80er Jahren schon nicht zu bewältigende Afghanistan-Abenteuer wie Kleinkram aussieht.“
Nicht zu vergessen der sagenhafte Brain Drain, unter dem alle Europäer leiden, Russland aber besonders. Gunnar Heinsohn nannte das Zusammentreffen aus Überalterung und Brain Drain jüngst sehr treffend „Dummvergreisung“.
Wladimir Putin hat vieles falsch gesehen und vieles falsch gemacht, nahezu alles. Vor allem hat er übersehen, dass die erschreckende geostrategische Debilität seines Landes nur zu einem sehr kleinen Teil außenpolitisch induziert ist, sondern es sich in erster Linie um innere Probleme handelt – denen auch nur innenpolitisch zu begegnen ist. Und all das, all diese schlechten Entwicklungen beschleunigt dieser Krieg nun massiv weiter (wie es übrigens jeder Krieg tut, immer und überall): Die diplomatische Isolation Russlands wird noch tiefer, die Ablehnung durch das ukrainische Brudervolk und die Trennung von diesem noch anhaltender, die russische Wirtschaft noch schwächer, die Umstände für Gründer, Unternehmer und Investoren noch unattraktiver, der Geburtenausfall der Russinnen noch dynamischer, der Brain Drain der Klugen noch katastrophaler…
Vermutlich wird Russland diesen Krieg militärisch nicht verlieren. Aber es wird sich von diesem Krieg nicht mehr erholen. Nie mehr.
Das zur heutigen Headline anregende Kulturstück findet sich hier.