Regelmäßig freitags bringt LEITERbAV eine kommentierte Presseschau zur bAV.
Heute: viele Themen von Kassel bis Korea…
BaFin (13. März): „Verantwortung ernst nehmen.“
BaFin zum ersten: In ihrem aktuellen BaFin-Journal schreibt die Anstalt:
„Eine wesentliche Zahl regulierter Pensionskassen verwendet im Neugeschäft noch einen Garantiezins über dem Höchstrechnungszins.“
Und weiter:
„Die BaFin kann derzeit daher nicht davon ausgehen, dass sich alle Anbieter der Probleme bewusst sind, die ihre Zinsversprechen mit sich bringen können.“
Der Probleme nicht bewusst? Im Jahre 2020? Starker Tobak. Die Aufsicht betont außerdem, hier besonders die VA bzw. VMF in der Verantwortung zu sehen:
„Die BaFin erwartet, dass die versicherungsmathematische Funktion für langlaufende Sparprodukte mit Zinsgarantie analysiert, ob die aus den Neu- und Wiederanlagen des Unternehmens zu erwartenden Renditen langfristig mit hinreichender Sicherheit ausreichen, um den im Neugeschäft versprochenen Garantiezins zu erwirtschaften. […] Ein pauschaler Verweis darauf, dass der Garantiezins nicht höher ist als der aktuell gültige Höchstrechnungszins, reicht daher keinesfalls aus.“
BaFin-Exekutivdirektor Frank Grund wird bekanntlich seit Monaten nicht müde, zu betonen, dass Pensionskassen unter größerem Druck stünden als LVU. Nun weiss LEITERbAV zu berichten, dass seine Anstalt allen regulierten PK, die im Neugeschäft mit einem Rechnungszins oberhalb 0,9% operieren, ihre Erwartung mitgeteilt hat, diese Praxis ab 2021 einzustellen. Außerdem hat die Anstalt durchblicken lassen, dass sie künftig nur noch Tarife mit höchstens 0,25% (!) Rechnungszins genehmigen und höherverzinsliche wie solche mit 0,5% wenn überhaupt nur noch befristet akzeptieren werde.
Kein Zweifel, hier tut sich die nächste, ggf. äußerst prekäre bAV-Baustelle auf. Wie sich 0,25% mit dem absehbaren Höchstrechnungszins von 0,5% für LV und deregulierte Pensionskassen unter dem Gesichtspunkt eines Level Playing Fields vertragen soll, ist völlig unklar. Die regulierten Pensionskassen, zumindest diejenigen, die als nicht-unternehmenseigene EbAV unter einem gewissen Wettbewerbsdruck stehen, beklagen schon durch die in Arbeit befindliche Insolvenzschutzpflicht (PSV vs. Protektor) zu Recht einen entstehenden regulatorischen Wettbewerbsnachteil. Nun könnte bald ein zweiter, noch gravierenderer hinzutreten.
BaFin (13. März): „Konsultation 03/2020 des überarbeiteten Rundschreibens zu den Aufgaben und Pflichten der Verwahrstelle.“
Nun erneut eine laufende Aufsichtsmaßnahme: Vor einer Woche hat die Anstalt anlässlich des Inkrafttretens der Delegierten Verordnung (EU) 2016/438 (OGAW V Level-2-VO) die Überarbeitung Rundschreibens zu den Aufgaben und Pflichten der Verwahrstelle zur Konsultation gestellt. Die Frist zur Abgabe von Stellungnahmen läuft bis zum 15. April.
Sustainable Finance-Beirat der Bundesregierung (13. März): „Konsultation des Zwischenberichts.“
Nochmal Konsultation, diesmal bis zum 3. April 2020, betreffend das aktuelle Überthema auch im Pensionswesen (das allerdings nun auch hinter Corona in die zweite Reihe zurücktreten muss).
Der Beirat hat in eigener Verantwortung einen Zwischenbericht erarbeitet, der als eine erste Diskussionsgrundlage dienen soll. Das Feedback der Konsultation wird in die weitere Arbeit des Beirats an dem Abschlussbericht an die Bundesregierung einfließen, so heißt es.
aba (19. März): „Absage der aba-Jahrestagung am 6./7. Mai 2020.“
Die Absage der Tagung für Anfang Mai. Das mag noch lang hin sein, doch da Mathematiker um die Dynamik exponentieller Funktionen wissen, kommt das nicht wirklich überraschend.
Bundessozialgericht (17. März): „Verhandlung B 12 KR 22/18 R aufgehoben.“
Bundessozialgericht (17. März): „Verhandlung B 12 KR 1/19 R aufgehoben.“
Nochmal Absagen: Für vergangenen Dienstag standen eigentlich vor dem höchsten deutschen Sozialgericht erneut zwei Verfahren zur Doppelverbeitragung von Kapitalleitungen aus Direktversicherungen auf der Agenda.
Mit ihrer Revision in dem Verfahren B 12 KR 22/18 R rügt edie Klägerin, dass kein Zusammenhang zwischen der Erwerbstätigkeit ihres Ehemanns und der Auszahlung bestehe. Diese sei ihr als Erbin zugeflossen. Jedenfalls sei die Erhebung von Beiträgen auf Direktversicherungen auch unverhältnismäßig und verstoße gegen Art 3 GG, weil betriebliche Riesterrenten nicht mehr zu Beiträgen herangezogen würden.
In dem Verfahren B 12 KR 1/19 R reklamierte der Kläger, dass die Kapitalleistung aus Mehrarbeit bezahlt und damit von ihm finanziert worden sei. Sie habe Überbrückungsfunktion und diene dem Übergang in den Ruhestand. Eine Altersversorgung scheide aus, weil er bei Auszahlung noch nicht im Ruhestand gewesen sei.
Doch auch hier gilt für beide Termine: auf unbestimmte Zeit verschoben. LbAV wird beizeiten berichten.
FAZ (19. März): „EZB will Anleihen für 750 Milliarden Euro kaufen.“
Allenthalben Lob für die EZB, die nun offenbar klotzen statt kleckern will, war heute festzustellen von Analysten – denen es ja schon qua Berufsethos gefallen sollte, wenn eine Zentralbank frisches Geld in die Märkte pumpt.
Kassandra ist nur sehr eingeschränkt zufrieden. Wenn die EZB also mit ihren 700 Mrd. Euro Zentralbankgeld erreichen wollte, dass die Spreads zu Bunds, aber im Endeffekt die Zinslast für Italien und auch die anderen Euroland-Staaten zurückgehe, ist zu konstatieren, dass man für viel Geld bei 10Y. italienischen Stand gestern Nacht ca. 50 BP erreicht hat (die Aktienmärkte sind ohnehin kaum beeindruckt).
Hinzu kommt, dass man auch an morgen denken muss. Diese 700 Mrd., die nun fließen sollen, bleiben ja dauerhaft aus der Tube (jetzt glaubt hoffentlich endgültig niemand mehr, dass diese Schulden irgendwann mit echtem Geld getilgt werden). Die gegenwärtig Fahrt aufnehmende Krise in Finanz- und Realwirtschaft läuft vermutlich auch deshalb so scharf ab (das Virus ist wohl nur der Trigger, nicht die Ursache dieser Verwerfungen), weil man schon in der letzten Krise durch zu billiges Geld entstandene Fehlstrukturen durch noch mehr billiges Geld zementiert und ausgebaut hat. Dies wird man nun mit dem hektischen, aber wenig kreativen und wenig wirksamen Aktionismus des exzessiven Gelddruckens wiederholen.
In vielen Medien wurde auch die (angebliche) Aussage Lagardes kolportiert und unterstützt, dass man mit diesem Paket auch Spekulanten, die auf Staatspleiten in Euroland setzten, abgeschreckt werden sollten. Da fragt man sich: Wo findet denn eine derartige Spekulation statt? Werden derzeit in großem Stil italienische Staatsanleihen geshortet? Oder der Euro höchstselbst? Hier gibt es hier doch gar keinen festen Wechselkurs, gegen den man spekulieren könnte? Wie muss man sich eine solche Spekulation denn derzeit technisch vorstellen? Und reicht für die Annahme einer Spekulation schon, dass die Spreads zu Bunds ein paar Dutzend BP hochgegangen sind, weil Anleger umgeschichtet haben? Weil der Euro jetzt auf 1,06 USD steht? Ist sie das, diese angebliche Spekulation auf die italienische oder europäische Pleite? Zweifelt überhaupt jemand daran, dass die EZB derzeit am Ende jeden Euroland-Staat ausbailen würde? Das lächerliche Gerede von bösen Spekulanten gegen den Euro oder Eurolandstaaten ist der blanke Unfug. Aber es ist praktisch, weil „der Spekulant“, wer auch immer das sein soll, natürlich keine Gegenrede erhebt.
Wie dem auch sei, wenn nun am Ende also die Geldpolitik – ohnehin das einzige Allheilmittel der handlungsschwachen europäischen Politik – die zwangsläufige Krise in der Realwirtschaft (die just infolge der Geldflut der letzten Dekade extrem verzerrt, ineffizient und vulnerabel ist) bekämpfen soll, dann wird über kurz oder lang wieder ein Terminus ganz oben auf die Tagesordnung kommen, der früher jedem VWL-Student im ersten Semester vermittelt wurde, heute aber vergessen scheint: die Stagflation.
Kassandra empfiehlt Regierungen und EZB daher eine andere, sichtlich günstigere Strategie als simpel Geld zu fluten und zu verteilen:
Erstens: Wenn die italienischen Kurse wirklich so sehr pressieren, dann gibt die EZB eine zeitlich begrenzte Corona-Patronatserklärung für Euroland-Sovereigns ab, um die Märkte zu beruhigen. Die 50 BP, die man nun über Käufe zu gewinnt, die hätte man auch so erreicht – ohne wirklich in den nächsten Monaten diese 700 Mrd. in den Markt geben zu müssen (und davon kann man nun nur noch schlecht zurück). Und von allen ökonomischen Problemen, welche die Staaten derzeit haben, dürfte die Frage der Refinanzierung mit 50 BP mehr oder weniger wohl nicht die drängendste sein.
Zweitens: Die Staaten sollten für ihre besonders unter Druck geratenen wirtschaftlichen Sektoren (im Fokus in Deutschland derzeit bspw. Selbständige, Freelancer, Tourismus, Events, Gastronomie…) schnelle Steuererleichterungen (mindestens aber Stundungen) in Kraft setzen (auch der 6a wäre hier ein guter Kandidat). Das passiert aber nicht und wird es vermutlich auch nicht – weil Politiker nicht gerne Steuern senken, sondern viel lieber gönnerhaft und staatsmännisch mit großer Pose Geld als Subventionen dort verteilen, wo sie ihre Wählerklientel oder gute Presse vermuten. Übrigens wäre auch eine Good Governance im Sinne von Bürokratieabbau (v.a. Dokumentationspflichten) eine Hilfe für kleine Unternehmen – die der Staat ganz umsonst bekäme.
Am Rande: Man darf gespannt sein, wie das BMAS in dieser Gemengelage mit der geplanten Pflicht-Altersvorsorge für Selbständige verfahren wird. Eine zusätzliche Beitragslast käme vielen jetzt bestimmt gerade recht.
Drittens schließlich sei wiederholt, dass die EZB für einen minimalen Bruchteil des nun einzusetzenden Zentralbankgeldes sukzessive und systematisch Aktien kaufen und damit viel mehr Effekt erzielen könnte als mit ihrer QE-Bazooka. Denn dann würden die Märkte erkennen, dass es nicht lohnt, in Panik und Verkaufsrausch zu verfallen, weil am Ende einer steht, der systematisch kauft – zwar in kleinen Schritten, aber sukzessive, unbeirrt, auch in fallenden Märkten, und der sich nie glattstellt. Wenn am Ende einer mit tiefen Taschen steht, der immer weiter akkumuliert, immer weiter und immer weiter, würden alle Panikverkäufer (und Shortseller übrigens auch), erkennen, dass sie am Ende ohne Aktien dastehen werden.
OFF TOPIC – TO WHOM IT MAY CONCERN
KCDC (19. März): „The updates on COVID-19 in Korea as of 19 March.“
Süd-Korea ist das Land, deren Datenbasis Kassandra bekanntlich wegen seiner Massentests (Stand heute ca. 316.000) für die verlässlichste hält (die Zahlen des chinesischen Regimes sollte man mit Vorsicht genießen).
Hier eine kassandrische Analyse der aktuellen Zahlen (amtlich direkt aus Seoul):
ERSTENS: Die am vergangenen Dienstag schon angemerkte gute Nachricht: Daily cases immer noch rückläufig (wenn auch vorgestern mit kleiner, hoffentlich nur sekundärer Aufwärtsbewegung): 87 Stück landesweit am 19. März. Das sind rund 90% weniger als zu den Spitzenzeiten Ende Februar / Anfang März. Auch im lokalen Corona-Cluster-Epizentrum Daegu ein ähnlich starker Rückgang.
Fest steht: Was auch immer die Süd-Koreaner zur Eindämmung der Exponentialfunktion in dem extrem dichtbesiedelten Land tun, es scheint richtig zu sein (Kassandra tippt übrigens darauf, dass die dort üblichen, aber hier verpönten Masken eine Rolle spielen, selbst wenn sie nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Schutz bieten. Aber dieser halbe Schutz scheint die Exponentialfunktion entscheidend abzuflachen.
Angesichts der Einfachheit der Maßnahme – halbwegs wirksame Masken kann man sogar in Heimarbeit herstellen – erstaunlich, dass dies in Deutschland flächendeckend noch keine Rolle spielt, obwohl das strategische Zwischenziel doch gerade die Abflachung der Exponentialkurve zwecks Schonung des Gesundheitssystems ist! Statt Maske solle man einfach in die Armbeuge rotzen, denn das hülfe, heißt es hierzulande, und als nächstes verfüge man dann ggf. eben – so wunderbar staatsmännisch – Ausgangssperren. In Süd-Korea gibt es beides nicht, weder berotzte Armbeugen noch Ausgangssperren; dafür aber massiv zurückgehende Fallzahlen).
Nochmal: 87 Neuerkrankungen bei einem Volk von 51 Mio., das auf der X-Abszisse der Exponentialfunktion deutlich weiter fortgeschritten ist als Deutschland, da dort Covid-19 sich Wochen vor dem Auftreten in Europa ausbreitete!
ZWEITENS: die Relation von Tests zu Fällen, also 316.000 zu 8.652, entsprechend einer Durchseuchung von gut 2,7%. So gesehen ist man also noch nicht sehr weit.
DRITTENS: die Relation von Fällen zu Toten, also 8.652 zu 94, also ziemlich genau 1,1%. Wie hier schon früher angedeutet, ist das eine schwere Rate und würde für Deutschland bei völliger Durchseuchung 800.000 Tote bedeuten, bei hälftiger 400.000, bei einem Viertel 200.000.
In Italien ist das Verhältnis bekanntlich viel entsetzlicher und liegt bei ca. 10%. In Italien und für Europa bleibt wirklich nur zu hoffen, dass hier die Dunkelziffer gigantisch ist. Daher auch der Blick nach Süd-Korea.
Aber die gute Nachricht: Süd-Korea zeigt ja (s. unter 1.), dass sich die Neuinfektionen durchaus in den Griff bekommen lassen.
VIERTENS: Unschön ist, dass die ohnehin nicht geringe Letalität von gut einem Prozent weiter steigt, wenn man sie nicht in Bezug zu der Gesamtzahl der Fälle, sondern konsequenterweise in Bezug zu der Zahl der Geheilten setzt (denn bei allen laufenden Fällen können und werden ja weitere Tote dazukommen). Unternimmt man dies für Süd-Korea mit 2.223 zu 94, kommt man auf eine Letalität von 4,2%. Das ist ein katastrophaler Wert.
FÜNFTES: Dieser brutalen Sicht auf die Dinge kann man aber auch folgenden, logisch nicht weniger zwingenden Gedankengang entgegensetzen:
Einerseits testet Süd-Korea zwar offenbar anlasslos (sonst gäbe es als Ergebnis ja nicht die geringe Durchseuchungsziffer, und deshalb auch die Aussagekraft der Zahlen) und hat bisher also ca. 316.000 anlasslose Tests vorgenommen. Daher dürfte die Dunkelziffer minimal sein. Andererseits hat aber auch Süd-Korea natürlich nur einen Ausschnitt der Bevölkerung von insg. 51 Mio. getestet. Rechnet man die Quote der Infektionen zu den Getesteten daher auf das ganze Land hoch (sehr grob eine gleichmäßige Durchseuchung trotz der Lage in Daegu, aber wegen der dichten Besiedelung angenommen), dann hätte man also heute 8.652×161=1,4 Mio. Fälle und 2.233×161=359.000 Genesene im ganzen Land.
Wenn man aber weiter davon ausgeht, dass praktisch ALLE an Corona Gestorbenen auch als solche erkannt werden (hier also landesweit gar keine Dunkelziffer existiert), kann man die Zahl der Toten in das Verhältnis zu den im gesamten Land Erkrankten bzw. Geheilten setzen. Dann ergibt sich im Unterschied zu 3. und 4. eine Letalität von 0,0067% bzw. 0,026% (beides tendentiell abnehmend). Das sind – bei aller Ungenauigkeit insb. wegen des Clusters Daegu – die guten Nachrichten, die sich mit dem Rückgang der Neuinfektionen (s. 1.) paaren.
Pessimisten sollten sich eher die Logik unter 4. zu eigen machen, Optimisten eher die unter 5., gepaart mit 1..
Kassandra betont jedenfalls ausdrücklich die Ungenauigkeit und Unsicherheit dieser Überlegungen, die einzig dazu dienen, eine von Natur aus unsichere und unklare Angelegenheit unter verschiedenen Gesichtspunkten zu bewerten.
SECHSTENS: In der Tat sterben in Süd-Korea fast nur alte Menschen über 70, vor allem über 80 (s. Grafiken des KCDC), obwohl andererseits deren Anteil an den Infizierten minimal ist. Die relative Letalität ist hier also extrem hoch. Wer das für einen Trost hält, ist pervers und braucht vielleicht keinen Virologen, dafür aber einen Therapeuten.
Noch eine Anmerkung zu der Realität in Deutschland: Gestern Abend schätzte bei Maybrit Illner (Min. 55) der derzeit gefragte Charité-Virologe Christian Drosten, dass in Deutschland zwischen 100.000 und 200.000 Tests pro Woche gemacht werden. Damit sei Deutschland das meisttestende Land der Welt (Drosten betonte ausdrücklich, dass es sich hier nur um eine Schätzung „aus dem Bauch ins Unreine“ handele).
Kassandra hält des Virologen Schätzung – bei allem gebotenen Respekt – für schwer nachvollziehbar. Erstens subjektiv: Kassandra kennt Stand heute nicht einen einzigen Menschen, der einen Test gemacht hätte. Eine Freundin in Berlin, der infolge infizierter Kollegen am Arbeitsplatz zu einem Test geraten wurde, versucht seit Tagen, irgendwo in Berlin nur eine einzige, erste Auskunft zu bekommen, wo und wie man überhaupt einen Test machen könnte – selbst das ist völlig aussichtslos.
Und auch objektiv: Nehmen wir an, dass es (bei bis zu 200K Tests / Woche) in Deutschland also Stand heute mind. 300.000 bis 400.000 Tests gegeben haben sollte, dann hieße das bei ca. 15.000 deutschen Fällen, dass nur jeder 20. bis 25 Test positiv war. Das erreicht man aber nur bei Massenscreenings à la Süd-Korea. Wer keine oder kaum Symptome hat, bekommt in Deutschland jedoch gar keinen Test. Gibt es einen einzigen unter den LbAV-Lesern, der Massenscreenings bemerkt hat? An 200.000 Tests / Woche in Deutschland mag Kassandra also nicht so recht glauben.
Sehen wir es positiv. Sollte der Kröte Skepsis an des Virologen Schätzung berechtigt sein, haben wir erneut eine gute Nachricht: Deutschland (83. Mio. Ew) hat pro Kopf eine ähnlich hohe oder gar höhere Zahl an Fällen wie Süd-Korea (51 Mio. Ew), aber weniger Tests durchgeführt (v.a. relativ weniger). Das hieße aber, dass Deutschland eine höhere Dunkelziffer aufweist und auf dem Weg zur Durchseuchung schon ein ordentliches Stück weiter gekommen ist als angenommen – ohne bereits in der Katastrophe zu versinken. Dann gilt es vor allem, noch zu eruieren, warum in Süd-Korea die Zahl der Neuinfektionen zurückgeht, und dies auf Deutschland zu übertragen (Stichwort: JEDER trägt draußen eine Maske, auch wenn diese – wie oft kritisiert – einen selbst gar nicht schützt, sondern nur den Gegenüber. Man muss kein Einstein sein, um zu erkennen, dass dies bei Flächendeckung auch einen selbst schützte).
Und nochmal eine – kleine – Hoffnung: Vielleicht sind ja auch in Deutschland die Neuinfektionen bereits auf dem Rückzug, und die Zahl steigt nur weiter, weil auch die Testzahlen exponentiell ansteigen? Das könnte man aber nur ermitteln, wenn man die Kurve der Testzahlen und der Fallzahlen über der Zeit übereinander legte. Solche Daten scheinen aber nicht verfügbar (wenn schon der Chef-Virologe der Charité die Zahl der Tests aus dem Bauch heraus schätzen muss, wird nochmal klarer, warum der Blick nach Süd-Korea validere Erkenntnisse verschafft).
Der Tagesspiegel (12. März): „Die medizinische Versorgung bricht bundesweit zusammen.“
Quasi noch etwas in eigener Sache:
LbAV hatte von dem Szenario spätabends durch einen Hinweis aus der Schweiz erfahren und in der gleichen Nacht entschieden, dass die Angelegenheit (obwohl das Szenario die bAV nicht unmittelbar, mittelbar aber sehr wohl betrifft) der Öffentlichkeit nicht vorenthalten werden darf.
Allerdings: Wenige Tage zuvor hatte, ohne dass dies LbAV bekannt war, schon der Berliner Tagesspiegel just über dieses Szenario berichtet. Sogar der von LbAV genutzte Begriff vom „Déjà-vu“ taucht dort auf:
„Der FDP-Bundestagsabgeordnete und Virologe Andrew Ullmann sagt mit Blick auf die sich ausbreitende Corona-Pandemie und die Risikoanalyse von 2012: ‚Da hat man schon ein Déjà-vu-Erlebnis.‘“
Insofern wäre eine Berichterstattung auf LbAV als Verlinkung in einer Presseschau zumindest (statt wie am Dienstag als Meldung des Tages) ausreichend gewesen. Das ändert nichts daran, dass man sich über die schlechten Vorbereitungen der Bundesregierung – insbesondere mit Blick die nun hektisch veranlassten, improvisierten Anpassungen an die Infrastruktur des Gesundheitswesens – doch sehr wundern muss.
Am Rande in diesem Zusammenhang nochmal Maybrit Illner gestern Abend: Analog zu dem 2012er-Szenario der Bundesregierung deutet dort eine Sinologin namens Kristin Shi-Kupfer an, dass das Virus auch akzidentiell in China freigesetzt worden sein könnte (Min. 51).
Zum Abschluss erneut die kleine, unschuldige und unwissenschaftliche Hoffnung Kassandras: Vielleicht verschwindet das Virus – ohne eine Erklärung abzugeben – genauso schnell, wie es gekommen ist? Ausgeschlossen ist jedenfalls auch das nicht, und vielleicht ist genau das ja bereits in Süd-Korea im Gange.