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DAV/DGVFM-Jahrestagung 2023 (II):

Im Kollektiv wichtiger denn je

Von Unkraut, heißen Sommern, angeschmierten Jungen – und wer auf der Strecke bleibt: Im zweiten Teil der Berichterstattung zur neulichen Aktuarstagung dokumentiert LbAV-Autor Detlef Pohl Auszüge aus der Podiumsdiskussion, bei der Aktuare auf Polit-Akteure trafen.

Heute auf LEITERbAV erneut einige der Inhalte von der Aktuars-Tagung, die Ende April in Dresden stattgefunden hat und an deren letztem Tag die Altersvorsorge in all ihren mathematischen Facetten auf der Agenda stand – und erneut im LbAV-typischen Telegrammstil (sämtlich im Indikativ der Zitierten).

Umfragen: Zwischen Opt-out und Real Assets

Den System-Check zum Thema „Die Leistungsfähigkeit privater und betrieblicher Altersvorsorgesysteme“versuchten zwei Mathematiker, ein Gewerkschafter und ein mathematischer Jungpolitiker.

Auftakt zur DAV/DGVFM-Tagung in Dresden Ende April 2023.

Doch zunächst zwei Umfrageergebnisse unter den rund 260 Tagungs-Teilnehmern: Mehr bAV ist durch ein Opt-out zu schaffen, sagen 61%, weniger glauben durch ein Obligatorium (26 %) oder weiter auf ganz freiwilliger Basis (13%).

Mehr Einigkeit bei der zweiten Umfrage: Stärkere sachwertorientierte Kapitalanlage befürworten 89% der Teilnehmer, nur 11% nicht. Diskutiert wird das seit Jahren, geschehen ist in der bAV relativ wenig. Und jetzt steigt der Zins …

Nun zu einigen Essentials aus der Diskussion:

DAV/Ergo: Realzins wichtiger als Inflation

Max Happacher, Ergo.

Maximilian Happacher, neu gewählter DAV-Vorsitzender, im Hauptberuf Vorstand Lebensversicherung der Ergo International, hält alle Säulen im austarierten Zusammenspiel für wichtig:

+++ bAV kann Fachkräftegewinnung erleichtern, muss aber finanzierbar bleiben +++ auskömmliches Rendite-Risiko-Profil könnte mit 60-80% Garantieniveau erreicht werden +++ Inflation ist wichtig, Realzins aber wichtiger +++ Versorgungslücke bei negativem Realzins höher und Altersvorsorge (AV) damit teurer +++ auch private AV bringt mit Kapitaldeckung und mehr Substanzwerten über lange Zeiträume guten Beitrag für Lebensstandardsicherung +++

 

 

 

Die private Rentenversicherung ist gut durch alle Krisen gekommen.“

 

 

+++ am einfachsten wäre Riester-Reform statt unbekanntem neuen Standardprodukt +++ Staatsfonds mit personenindividuellen Konten wären falsch, da kollektive Lösung viel bessere Risikopufferung und kostengünstigere Bestandsverwaltung bringt +++ private Rentenversicherung gut durch alle Krisen gekommen +++ Balance zwischen AV-Systemen muss funktionieren (Diversifizierung) +++

DAV/Evonik (I): Mehr Flexibilität im Garten der bAV nötig

Susanna Adelhardt, Evonik Industries.

Susanna Adelhardt, neu gewählte stv. DAV-Vorsitzende, im Hauptberuf Benefits-Chefin der Evonik Industries, vergleicht die bAV mit einem Garten, der noch mehr blühen und gedeihen könnte, um auch bessere Früchte zu liefern – bei dem aber auch die Flexibilität notwendig ist, die Pflanzen zu wählen, die bei begrenztem Wasserangebot und heißen Sommern blühen:

+++ Garten ist komplexes Gebilde, das flexibler beackert werden muss +++ Sozialpartnermodell (SPM) ist neue Pflanze, die viel Unkraut beseitigen könnte (Enthaftung, sachwertorientierte Anlage, deutsches DC-Modell), aber ist noch nicht wirklich im Garten angekommen +++ es geht für SPM um mehr Breite in Branchen und Flexibilität auch im Niedriglohnsektor +++ Öffnung des „Gartentors“ bei SPM nötig und durch Fachdialog hoffentlich bald erreicht +++ wie mehr Flexibilität in den Garten kommt, ist fast egal, aber man muss es tun +++

 

 

Opt-out oder Obligatorium in der bAV sind keine aktuariellen Fragen, sondern politische.“

 

 

+++ Opt-out oder Obligatorium in bAV keine aktuarielle Frage, sondern Entscheidung der Politik +++ mehr Verbreitung gerade in KMU nötig +++ Gesamtbudget der Firmen begrenzt +++ solange großer Teil davon auf ältere Zusagen allokiert werden muss, bleibt Generationengerechtigkeit auf der Strecke +++ doch Arbeitsrecht steht dagegen, da arbeitsrechtliche Zusagen für gesamte Dauer vorgegeben sind und Anpassung nach unten kaum möglich +++ wie zu ändern? Frage von LbAV wurde vom Moderator nicht aufgegriffen, obwohl sie im Chat von vielen Teilnehmern hoch gevotet wurde +++

+++ Evonik will Fachkräfte mit bAV anziehen, ist aber noch auf Suche nach Sichtbarkeit der Werthaltigkeit der bAV für alle Generationen +++ Mittel zum Zweck: vor allem sachwertorientierte Direktzusage für neue Mitarbeiter +++ Kommunikation mit MA braucht Paradigmenwechsel – weg von nominaler Orientierung und hin zu Orientierung in Warenkörben (Realwerte statt Nominalgarantien) +++

DGB: 40% der Haushalte erst gar nicht sparfähig

Markus Hofmann, DGB.

Markus Hofmann, Leiter Abteilung Sozialpolitik beim DGB, sieht das SPM gut gestartet, sieht aber zahlreiche grundsätzliche Probleme:

+++ Schweden generiert 70% AV aus bAV +++ Gesetzgeber muss mutiger werden, z.B. mehr Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklären, da Tarifbindung zu schwach +++ Staatsfonds würden Gesetzgeber und Arbeitgebern Gestaltungschancen nehmen +++ ohne starke gesetzliche Rente ist alles andere nichts wert +++ zum Öffnen SPM für Nicht-Tarifgebundene: „Wer soll das verhandeln?“ +++ tariflicher Bezug wünschenswert +++ BaFin bei der Aufsicht überfordert +++

+++ Abschwächung von Garantien inzwischen für Gewerkschaft wünschenswert, da Risiken anders abzufedern (Zielrente; Sicherungsbeitrag) +++ mangelnde Generationengerechtigkeit in bAV wird zum Problem +++ Uniper hat dies mit SPM auf Druck der Belegschaft vernünftig umgestellt +++ andere Firmen schließen alte Systeme, doch damit bleiben Junge „angeschmiert“ +++

 

 

Man kann die Demografie nicht wegsparen.“

 

 

+++ neues Obligatorium für private AV sinnlos, da 40% der Haushalte gar nicht sparfähig +++ Fokusgruppe private Altersvorsorge (Anm. d. Red.: Hofmann ist Teilnehmer) legt im Juni Abschlussbericht vor +++ Tätigkeit gilt als vertraulich, doch Hofmann deutet an: eventuell kommt leichte Dynamisierung bisheriger Riester-Rente +++ Gewerkschaftslob für Fokusgruppen-Tagungsleiter: BMF-StS Florian Toncar (FDP) macht das gut +++ am wichtigsten bleibt aber DRV, die zusammen mit bAV Lebensabend retten soll +++

+++ Demografie trifft alle drei Schichten, und: man kann Demografie nicht wegsparen +++ daher gerechte Verteilungspolitik so wichtig +++ niemand wünscht sich „Bundessparkasse“ für Staatsfonds +++ DRV eigentlich das wirtschaftlichste System, da private AV bei Verrentung mit steigenden Kosten und wenig plausiblen Sterbetafeln arbeitet +++ Bundeszuschuss mit rund 25% seit vielen Jahren stabil +++ gute Beschäftigung und Integration sichern System-Zukunft +++

FDP: Steuergeld in die GRV ist keine Lösung

Maximilian Reiter, FDP.

Maximilian Reiter, Mitglied des Vorstands der Jungen Liberalen und studierter Mathematiker, der aktuell an seiner Promotion arbeitet, vertritt vor allem die Sicht der Jungen in der Diskussion:

+++ bAV bleibt spannend, aber mehr Flexibilität bei Kapitalanlage nötig +++ SPM nachvollziehbar gutes Modell, aber in Fläche nicht flexibel genug, um alle zu erreichen +++ Ausweitung schwierig, da bei Arbeitnehmern viele unterschiedliche Bedürfnisse und Finanzlagen +++ Risikoabschätzung oft individuell nötig, flexible Produktauswahl besser als Obligatorium +++ mehr Fachkräfte, durch Benefits wie bAV angelockt, lösen Demografie nicht +++

 

 

Die Kapitaldeckung ist auch in der GRV alternativlos.“

 

 

+++ viel Vertrauen in gesetzliche Rente verloren gegangen +++ keine Lösung, jedes Jahr 25% des Sozialetats in GRV zu pumpen +++ private AV: Fokusgruppe sollte globale Allokation bei staatlicher Förderung im Blick haben für mehr Rendite und Flexibilität +++ keine Produktvorgaben, sondern verlässlicher Rahmen wichtig +++ Obligatorium ginge ins Leere, da Abgabenlast schon jetzt zu hoch +++ Kapitaldeckung auch in GRV alternativlos +++ da wäre Staatsfonds analog zu Schweden richtige Richtung +++

DAV/Evonik (II):

Am 4. Mai fand außerdem das DAV-Pressegespräch statt, in dem Adelhardt zahlreiche Aspekte der Tagung erneut aufgriff, in aller Kürze:

+++ staatlich geförderte Altersvorsorge im Kollektiv wichtiger denn je, da sie mit lebenslanger zusätzlicher Rente beiträgt, Folgen der Demographie auf den Einzelnen zu dämpfen +++ aber zur Weiterentwicklung definitiv Anpassung der politischen Rahmenbedingungen nötig +++ neben einfacherer Förderung und Bürokratieabbau auch Erhöhung der Ertragsaussichten über abgesenkte Garantien +++

+++ Pflichten zur dauernden Erfüllbarkeit führt bei vorübergehend negativen Märkten zu Umschichtungen in risikoarme Anlagen – zu Lasten des Ertrags und damit der späteren Rente +++

Fazit von LEITERbAV

Die Diskussion ist diesmal lebhafter als noch im Vorjahr. Vor allem Vertreter des DGB und der Jungen Liberalen duellieren sich auf inhaltlich erstaunlich gutem Niveau. Dennoch: Unter der Ampel ist bislang in Sachen AV wenig passiert. Ob sich das im Jahresverlauf noch ändert, werden die Ergebnisse der Fokusgruppe private AV und des Fachdialogs bAV im Sommer zeigen. Baustellen gibt es nach wie vor viele, wie man es seit allen Jahren kennt. Selbst die dringend nötige Abschaffung der 100%-Garantie ist bisher nicht gelungen.

Zu vorsichtig bei der Dringlichkeit für einen Politik-Schwenk blieben die beiden neu gewählten DAV-Chefs. Es hätten sich angeboten, in der Diskussion mathematisch klare Fakten auf den Tisch zu legen statt vorsichtiger Hinweise Richtung Politik. Wenn EbAV tatsächlich noch auf der Suche nach der Werthaltigkeit künftiger bAV sein sollten, um mehr Generationengerechtigkeit hinzubekommen, stimmt das bedenklich. Da waren die Pensionsaktuare im Vorjahr deutlicher.

Die bAV-Regulatorik braucht dringend Veränderung, und der Hintergrund ist auf diesem Parkett bekannt: Sobald die bAV-Versorgungsleistung gegen Zahlung eines festgelegten Beitrags der Höhe nach garantiert wird, schlagen die Regulatorik und die anerkannten Regeln der Versicherungsmathematik mit voller Härte zu. Der Ist-Zustand: Da weder die zugesagte Leistung nachträglich gekürzt noch der dafür vereinbarte Beitrag im Laufe der Zeit erhöht werden dürfen, muss der Beitrag mit erheblichen Sicherheiten kalkuliert werden, was ihn in die Höhe treibt und die Leistungen gerade der Jungen mindert.

Zudem verlangt das Aufsichtsrecht, dass Versorgungsverpflichtungen zu jeder Sekunde während des gesamten, oft jahrzehntelangen Versorgungsverhältnisses mit Vermögen bedeckt sein müssen. Auch dies ließe sich gesetzgeberisch ändern, damit Beiträge nicht länger schwach rentierlich investiert bleiben müssen.

Nun könnte man argumentieren, dass doch der Zins gestiegen sei und damit zumindest mit der Neuanlage die geschilderte Problematik abgemildert würde. Doch das wäre eine Täuschung. Denn sicher ist eins: Einfacher werden die Kapitalmärkte auch in Zukunft nicht.

Ob die Fokusgruppen alte Probleme neu anfassen? Man wird sehen.

Diskriminierungsfreie Sprache auf LEITERbAV

LEITERbAV bemüht sich um diskriminierungsfreie Sprache (bspw. durch den grundsätzlichen Verzicht auf Anreden wie „Herr“ und „Frau“ auch in Interviews). Dies muss jedoch im Einklang stehen mit der pragmatischen Anforderung der Lesbarkeit als auch der Tradition der althergerbachten Sprache. Gegenwärtig zu beobachtende, oft auf Satzzeichen („Mitarbeiter:innen“) oder Partizipkonstrukionen („Mitarbeitende“) basierende Hilfskonstruktionen, die sämtlich nicht ausgereift erscheinen und dann meist auch nur teilweise durchgehalten werden („Arbeitgeber“), finden entsprechend auf LEITERbAV nicht statt. Grundsätzlich gilt, dass sich durch LEITERbAV alle Geschlechter gleichermaßen angesprochen fühlen sollen und der generische Maskulin aus pragmatischen Gründen genutzt wird, aber als geschlechterübergreifend verstanden werden soll. Auch hier folgt LEITERbAV also seiner übergeordneten Maxime „Form follows Function“, unter der LEITERbAV sein Layout, aber bspw. auch seine Interpunktion oder seinen Schreibstil (insb. „Stakkato“) pflegt. Denn „Form follows Function“ heißt auf Deutsch: "hässlich, aber funktioniert".

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