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Gestern in Karlsruhe (III):

Von Treue, Massen und Härten

Kollektives System, kollektive Regelung: So in etwa kann man ein Urteil des BGH kurz fassen, in dem dieser klarstellt, inwiefern die Ordnung hochkomplizierter Massenerscheinungen zu Ungleichbehandlungen führen kann, die hinzunehmen sind. Damit geht eine uralte Auseinandersetzung um die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst wohl zu Ende.

Karlsruhe: Bei dem Verhandlungstermin am gestrigen 20. September 2023 stand zum dritten Mal nach 2007 und 2016 eine Grundsatzentscheidung des BGH zu den Startgutschriften der Zusatzversorgung des öffentlichen und kirchlichen Dienstes an. Die Hintergründe der Entwicklung einer „schwierigen Reform für 9 Millionen Menschen“ hat Hagen Hügelschäffer, Geschäftsführer der AKA (Arbeitsgemeinschaft kommunale und kirchliche Altersversorgung) e.V. in München, jüngst auf LEITERbAV dargelegt.

Gestern nun also das Urteil, und offenbar ist die uralte Frage der Startgutschriften nun im Status der Rechtssicherheit angelangt. Der IV. Zivilsenat des BGH hat die Wirksamkeit der im März 2018 erneut geänderten Startgutschriftenregelung der VBL für rentenferne Versicherte in der Zusatzversorgung der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst bestätigt. Damit dürfte die jahrelange Auseinandersetzung nun vermutlich beendet sein.

In zumindest nach Ansicht des Chronisten erfrischender Art stellt der Senat klar, dass es bei komplexen Reformen, die 9 Millionen Menschen betreffen, Ungleichbehandlungen gibt, die vom einzelnen hinzunehmen sind (gerafft):

Die Anwendung des Näherungsverfahrens verstößt namentlich nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. Zwar kann es sich im Vergleich zur individualisierten Berechnung ungünstig auswirken. Die mit dieser Ungleichbehandlung im Einzelfall verbundenen Härten und Ungerechtigkeiten sind aber hinzunehmen.

Und der BGH weiter, den Nagel auf den Kopf treffend:

Insbesondere bei der Ordnung von Massenerscheinungen und der Regelung hochkomplizierter Materien, wie der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst, können typisierende und generalisierende Regelungen zulässig sein.“ (weitere Einzelheiten s.u.).

Schließlich kommt noch die Treue ins Spiel, denn die neue Regelung „wahrt das der bAV im öffentlichen Dienst zugrundeliegende Prinzip, die Betriebstreue des Versicherten im öffentlichen Dienst zu honorieren.“

Abschließen nach zwei Jahrzehnten

Hagen Hügelschäffer, AKA.

AKA-GF Hügelschäffer begrüßte gestern in einer ersten Reaktion gegenüber LEITERbAV ausdrücklich diese Entscheidung: „Bei den kommunalen und kirchlichen Zusatzversorgungskassen waren zum Zeitpunkt der Umstellung vom Gesamtversorgungssystem auf das Punktemodell ca. 3 Mio. rentenferne Versicherte und somit mehr Personen als bei der VBL betroffen. Daher schafft diese Entscheidung für unsere Kassen nach über 20 Jahren die erforderliche Rechtssicherheit, um dieses Kapitel abschließen zu können.“

Die Entscheidung beweise, so Hügelschäffer weiter, dass die Tarifvertragsparteien bei der Einführung des nach Alter gestaffelten gleitenden Anteilssatzes den richtigen Weg gewählt haben, um den Anforderungen des letzten BGH-Urteils IV ZR 9/15 vom März 2016 zu den rentenfernen Startgutschriften Rechnung zu tragen. Darüber hinaus sei die Feststellung des BGH zu begrüßen, dass die ausschließliche Anwendung des Näherungsverfahrens zur Ermittlung der anzurechnenden Grundversorgung keinen Bedenken begegnet: „Auch hier haben die Tarifvertragsparteien seinerzeit die richtige Entscheidung getroffen, um eine zügige und gleichzeitig interessengerechte Umrechnung der Anrechte aus dem ehemaligen Gesamtversorgungssystem sicherzustellen.“

Details und Hintergründe in den Worten des BGH

Soviel zu der Entscheidung und ihrer ersten Würdigung. Hier für an den Details Interessierte nun weitere Einzelheiten zu dem Fall in den Worten des BGH und zu dessen Urteil IV ZR 120/22 mit, zunächst zu den früheren Verfahren:

Die VBL hat die Aufgabe, Angestellten und Arbeitern der an ihr beteiligten Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes im Wege privatrechtlicher Versicherung eine zusätzliche Alters-, Erwerbsminderungs- und Hinterbliebenenversorgung zu gewähren. Mit Neufassung ihrer Satzung (VBLS) vom 22. November 2002 stellte die VBL ihr Zusatzversorgungssystem rückwirkend zum 31. Dezember 2001 (Umstellungsstichtag) von einem an der Beamtenversorgung orientierten Gesamtversorgungssystem auf ein auf dem Punktemodell beruhendes, beitragsorientiertes Betriebsrentensystem um.

Die neugefasste Satzung enthält – auf der Grundlage entsprechender tarifvertraglicher Vereinbarungen – Übergangsregelungen zum Erhalt von bis zur Systemumstellung erworbenen Rentenanwartschaften. Diese werden als sog. Startgutschriften den Versorgungskonten der Versicherten gutgeschrieben. Dabei werden Versicherte, deren Versorgungsfall zum Umstellungsstichtag noch nicht eingetreten war, in rentennahe und rentenferne Versicherte unterschieden. Grundsätzlich ist rentenfern, wer am 1. Januar 2002 das 55. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte. Das betraf zum Umstellungsstichtag ca. 1,7 Mio. Versicherte.

Die Startgutschrift rentenferner Versicherter nach § 79 Abs. 1 VBLS i.V.m. § 18 Abs. 2 BetrAVG wird – vereinfacht dargestellt – in zwei Rechenschritten ermittelt: In einem ersten Rechenschritt wird die sog. Voll-Leistung berechnet, die die vom Versicherten bei der VBL maximal erzielbare, fiktive Vollrente beschreibt. Dazu wird von der dem Versicherten zum Umstellungsstichtag fiktiv zustehenden Gesamtversorgung, der sog. Höchstversorgung, dessen voraussichtliche Grundversorgung, d.h. seine gesetzliche Rente, in Abzug gebracht. In einem zweiten Schritt wird rentenfernen Versicherten als Startgutschrift zunächst für jedes Jahr ihrer Pflichtversicherung in der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes anteilig ein Prozentsatz (sog. Anteilssatz) dieser Voll-Leistung gutgeschrieben.

Der Anteilssatz betrug zunächst 2,25%. Diese Übergangsregelung erklärte der IV. Zivilsenat des BGH mit Urteil vom 14. November 2007 (IV ZR 74/06) wegen eines Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG für unverbindlich und beanstandete insb. eine gleichheitswidrige Benachteiligung von Versicherten mit langen Ausbildungszeiten (dazu Pressemitteilung 173/2007). Daraufhin ergänzten die Tarifvertragsparteien und ihnen folgend die VBL die Startgutschriftenregelung um eine Vergleichsberechnung in § 79 Abs. 1a VBLS, die unter näher geregelten Voraussetzungen zu einer Erhöhung der bisherigen Startgutschriften rentenferner Versicherte führen konnte. Mit Urteil vom 9. März 2016 (IV ZR 9/15) entschied der IV. Zivilsenat, dass die solcherart geänderte Übergangsregelung weiterhin zu einer gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßenden Ungleichbehandlung führe und deshalb ebenfalls unverbindlich sei (dazu Pressemitteilung 53/2016).

Mit Änderungstarifvertrag von Juni 2017 einigten sich die Tarifvertragsparteien darauf, im Rahmen der Ermittlung der Startgutschrift den bisherigen Anteilssatz von 2,25% durch einen variablen Anteilssatz zu ersetzen. Dieser beträgt, in Abhängigkeit von den Pflichtversicherungszeiten, die der jeweilige Versicherte bis zum Eintritt des 65. Lebensjahrs erreichen kann, zwischen 2,25% und 2,5%. Die VBL übernahm diese Neuregelung mit Wirkung zum März 2018 in § 79 Abs. 1 Satz 3 bis 8 ihrer Satzung.“

Zum gestern verhandelten Sachverhalt und dem bisherigen Prozessverlauf schreibt der BGH:

Die hiesige Klägerin ist rentenferne Versicherte bei der beklagten VBL und bezieht von dieser seit August 2014 eine Versorgungsrente. Sie hält auch die nochmals geänderte Übergangsregelung für unwirksam und erstrebt eine nach dem vor der Systemumstellung geltenden Satzungsrecht ermittelte Rente, hilfsweise eine abweichende Berechnung ihrer Startgutschrift unter Berücksichtigung verschiedener ihr günstiger Berechnungsgrundlagen und äußerst hilfsweise die Feststellung der Unverbindlichkeit der ermittelten Startgutschrift.

Ihre Klage ist in beiden Vorinstanzen erfolglos geblieben. Das Berufungsgericht hat die nunmehrige Übergangsregelung für wirksam gehalten und insbesondere einen Verstoß der Startgutschriftenregelung gegen Art. 3 Abs. 1 GG sowie eine Diskriminierung rentenferner Versicherter wegen ihres Lebensalters und ihres Geschlechts verneint.“

Zu der nun erfolgten Entscheidung seines IV. Senats teilt der BGH mit:

Der IV. Zivilsenat hat in einer Grundsatzentscheidung die Revision der Klägerin gegen das Berufungsurteil zurückgewiesen. Das Berufungsgericht hat ohne Rechtsfehler angenommen, dass die für rentenferne Versicherte getroffene Übergangsregelung wirksam ist. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine anderweitige Berechnung ihrer Startgutschrift.

Es begegnet keinen rechtlichen Bedenken, dass bei der Ermittlung der Startgutschrift für die Berechnung der Voll-Leistung die von der Höchstversorgung in Abzug zu bringende voraussichtliche gesetzliche Rente des Versicherten nicht individualisiert, sondern nach dem bei der Berechnung von Pensionsrückstellungen allgemein zulässigen Verfahren (dem sog. Näherungsverfahren) zu ermitteln ist.

Die Anwendung des Näherungsverfahrens verstößt namentlich nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. Zwar kann sich die Anwendung des Näherungsverfahrens im Vergleich zu einer individualisierten Berechnung der fiktiven gesetzlichen Rente ungünstig auswirken. Die mit dieser Ungleichbehandlung im Einzelfall verbundenen Härten und Ungerechtigkeiten sind aber hinzunehmen. Insbesondere bei der Ordnung von Massenerscheinungen und der Regelung hochkomplizierter Materien, wie der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst, können typisierende und generalisierende Regelungen zulässig sein. Ohne Rechtsfehler ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass die ausschließliche Anwendung des Näherungsverfahrens die verfassungsmäßigen Grenzen einer zulässigen Typisierung und Standardisierung einhält.

Der BGH im Erbgrossherzoglichen Palais. Foto: Joe Miletzki.

Die Anwendung des Näherungsverfahrens bewirkt ferner keine unzulässige Benachteiligung wegen des Geschlechts. Insbesondere liegt keine unzulässige Benachteiligung weiblicher rentenferner Versicherter vor. Die Feststellungen des Berufungsgerichts zeigen, dass sich die Anwendung des Näherungsverfahrens nicht auf einen signifikant höheren Anteil der weiblichen Versicherten ungünstig auswirkt. Infolge von Lücken in der Erwerbsbiografie, etwa aufgrund von Kinderbetreuungszeiten, benachteiligte weibliche (und männliche) Versicherte werden zudem dadurch begünstigt, dass bei der Berechnung der Gesamtversorgung zu ihren Gunsten ebenfalls eine lückenlose Erwerbsbiografie unterstellt wird.

Aus Rechtsgründen ist ebenfalls nicht zu beanstanden, dass der Startgutschriftenermittlung nunmehr ein gleitender Anteilssatz von 2,25% bis 2,5% für jedes Jahr der Pflichtversicherung zugrunde liegt. Durch die Einführung des gleitenden Anteilssatzes können bei einem angenommenen Renteneintritt mit 65 Lebensjahren nunmehr – anders als noch nach der Vorgängerregelung – auch Versicherte mit einem Diensteintrittsalter zwischen 20 Jahren und sieben Monaten und 25 Jahren theoretisch eine Startgutschrift von 100% der Voll-Leistung und damit die höchstmögliche Versorgung erreichen. Damit entfällt insb. die bisherige Benachteiligung von Versicherten mit längeren Ausbildungszeiten, die nach einem Studium oder einer Ausbildung außerhalb des öffentlichen Dienstes üblicherweise bis zum 25. Lebensjahr in den öffentlichen Dienst eintreten.

Es verstößt weder gegen den allgemeinen Gleichheitssatz noch bewirkt es eine unzulässige Benachteiligung wegen des Alters, dass Versicherten mit einem Eintrittsalter von mehr als 25 Jahren infolge der Deckelung des Anteilssatzes auf 2,5% weiterhin die höchstmögliche Versorgung auch theoretisch nicht erreichen können. In Anbetracht eines typischen Erwerbslebens von mindestens 40 Jahren ist es nicht zu beanstanden, dass Versicherte die höchstmögliche Versorgung lediglich unter der Voraussetzung einer erreichbaren Pflichtversicherungszeit von mindestens 40 Jahren erzielen können. Dies gilt auch, soweit diese Versicherten keine Erhöhung der Startgutschrift nach § 79 Abs. 1a VBLS erhalten. Wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, wird die Regelung in § 79 Abs. 1a VBLS lediglich im Hinblick auf das schützenswerte Vertrauen derjenigen Versicherten aufrechterhalten, denen nach der bisherigen Vergleichsberechnung noch ein Zuschlag zusteht.

Der gleitende Anteilssatz bewirkt ferner keine neue unzulässige Ungleichbehandlung wegen des Alters der vor Vollendung des 25. Lebensjahres in den öffentlichen Dienst eingetretenen Versicherten. Zwar fällt für diese Versicherten der gleitende Anteilssatz – begrenzt auf mindestens 2,25% – desto kleiner aus, je jünger sie in den öffentlichen Dienst eingetreten sind. Das bewirkt jedoch unter Berücksichtigung des weiten Gestaltungsspielraums der Tarifvertragsparteien keine unzulässige Diskriminierung wegen des Alters, sondern wahrt das der bAV im öffentlichen Dienst zugrundeliegende Prinzip, die Betriebstreue des Versicherten im öffentlichen Dienst zu honorieren.

Die Übergangsregelung für rentenferne Versicherte ist schließlich auch unter dem Gesichtspunkt der Verteilungsgerechtigkeit nicht zu beanstanden. Eine einseitige Belastung bestimmter Versichertengruppen wie bei der früheren Übergangsregelung liegt nicht mehr vor.“

Die Vorinstanzen waren das LG Karlsruhe mit Urteil 6 O 184/19 vom 29. Mai 2020 und das OLG Karlsruhe mit Urteil 12 U 106/20 vom 17. März 2022.

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