Das Forum für das institutionelle deutsche Pensionswesen

DVfVW-Jahrestagung 2022:

Go your own Stresstest

Die deutsche Versicherungswissenschaft befasst sich auf ihrer E-Jahrestagung intensiv mit der Resilienz der Versicherungsbranche im Umgang mit Klima-, Cyber- und Pandemierisiken. Das Thema Nachhaltigkeit betrifft nicht nur, aber maßgeblich die Kapitalanlage. LbAV-Autor Detlef Pohl dokumentiert Auszüge zweier Redner. Nicht zuletzt die berichteten Größenordnungen – und ihrer Relationen – sind bemerkenswert.

 

16. und 17. März in Berlin und online: Jahrestagung des Deutschen Vereins für Versicherungswissenschaft (DVfVW), auf der die Beherrschbarkeit von Nachhaltigkeitsrisiken durch die Versicherungsbranche, im Versicherungsbetrieb und -vertrieb sowie in der Kapitalanlage der Versicherer durchdekliniert wird.

 

Bei den Kapitalanlagen steht naturgemäß die Lebensversicherung im Vordergrund, deren Neugeschäft maßgeblich von der bAV geprägt ist. Daher schimmert die bAV bei den Reden und Diskussionen immer mit durch – zahlreiche Aussagen kann man direkt auf das Pensionswesen übertragen. Wegen der Inhaltsdichte dokumentiert LEITERbAV Impressionen vom DVfVW-Plenum „Kapitalanlagen und Nachhaltigkeit“ im für Redaktion und Leserschaft gleichermaßen schonenden LbAV-Stakkato (sämtlich im Indikativ der Referenten).

 

Grund: Transformation der Wirtschaft hängt entscheidend von Versicherern mit ab

 

Frank Grund, Exekutivdirektor Versicherungs- und Pensionsfondsaufsicht der BaFin (und bekannt dafür, dass er der bAV in Zukunft eine noch stärkere Rolle zutraut als bisher schon erreicht):

 

+++ bricht Lanze für die Versicherungsbranche als institutioneller Kapitalanleger +++ Transformation zu nachhaltiger Wirtschaft Gebot der Stunde; hängt stark davon ab, wo und wie große Investoren anlegen +++ Finanzwirtschaft soll Schlüsselrolle spielen, die deutschen Versicherer „hier entscheidende Player“: derzeit inkl. bAV rund 2,5 Bio. Euro Kapitalanlagen +++

 

 

 

 

Der Grundsatz unternehmerischer Vorsicht gilt auch für Nachhaltigkeit.“

 

 

 

 

 

+++ nur stabile Versicherer in der Lage, zur Transformation der Wirtschaft beizutragen +++ entscheidend, dass Versicherer die mit ihrer Geschäftstätigkeit verbundenen physischen und transitorischen Nachhaltigkeitsrisiken identifizieren, einschätzen und steuern können +++ daher Risiken aus Niedrigzinsumfeld eines der sechs Fokusrisiken, die BaFin 2022 im Blick hat +++

 

Frank Grund, BaFin. Foto: Frank Beer.

+++Grundsatz unternehmerischer Vorsicht gilt auch für Nachhaltigkeit +++ um Nachhaltigkeitsrisiken identifizieren und einschätzen zu können, müssen sich Versicherer im Risikomanagement mit relevanten Risikoindikatoren und deren Entwicklung auseinandersetzen +++ externe ESG-Scorings oder -Ratings können helfen +++ wichtiger Baustein aber auch eigene Stresstests und Szenarioanalysen, konkrete Vorschläge im BaFin-Merkblatt von 2019 zu Nachhaltigkeitsrisiken +++ beaufsichtigte Unternehmen sollen Ansatz entwickeln, der ihrem Risikoprofil entspricht +++ extern und intern ermittelte Erkenntnisse ermöglichen es, valide Entscheidungen zu treffen +++

 

+++ Vermögenswerte können von jetzt auf gleich zu „Stranded Assets“ werden, also dramatisch an Wert verlieren, vor allem aufgrund transitorischer Nachhaltigkeitsrisiken +++ wichtig aber auch Reputationsrisiken (etwa Greenwashing-Vorwürfe) +++ jedoch: welche Investitionen ein Versicherer tätigt und welche Risiken er eingeht, bleibt Entscheidung des Managements, „vorausgesetzt, er hat genügend Risikokapital“ +++

 

+++ Versicherer auf gutem Weg, mit Nachhaltigkeitsrisiken umzugehen +++ BaFin-Abfrage zur Umsetzung des Merkblatts hat kürzlich gezeigt: Die meisten Versicherer beschäftigen sich mit diesen auch bei strategischen Überlegungen +++ Hälfte der Befragten hat Geschäfts- und Risikostrategien bereits angepasst und Nachhaltigkeitsziele formuliert; die übrigen planen dies kurzfristig +++ größter Einfluss von Nachhaltigkeitsrisiken wird spartenübergreifend bei Kapitalanlagen gesehen +++ dort sind Versicherer schon am weitesten mit Berücksichtigung der ESG-Faktoren: gut drei Viertel haben Nachhaltigkeitsrisiken bereits in Kapitalanlageleitlinien und -prozesse integriert +++

 

 

 

 

 

Die BaFin erwartet, dass bereits 2022 alle ORSA-Berichte Aussagen zu den Auswirkungen des Klimawandels enthalten.“

 

 

 

 

 

+++ dringender Nachholbedarf hingegen beim ORSA, der eigenen Risiko- und Solvabilitätsbeurteilung (analog bei EbAV ORA) +++ nur knapp ein Viertel nutzt bisher interne Stresstests und Szenarioanalysen zur Bewertung der Nachhaltigkeitsrisiken +++ konkrete Klimawandelrisiko-Szenarien hat nur in etwa jedes zehnte Unternehmen im Blick +++ Versicherer „sollten Rückstände zügig aufholen“ +++ BaFin erwartet, dass bereits 2022 alle ORSA-Berichte Aussagen zu den Auswirkungen des Klimawandels enthalten +++ schätzen die Unternehmen die Risiken für sich als wesentlich ein, sind diese im ORSA in angemessenen Szenarien zu berücksichtigen +++ werden Risiken als nicht wesentlich eingeschätzt, muss dies begründet werden +++ Versicherungssektor ist noch lange nicht am Ziel, daher sind Nachhaltigkeitsrisiken auch 2022 ein strategischen Schwerpunkt der Versicherungsaufsicht +++

 

+++ große Teile der Politik und Öffentlichkeit erwarten vom gesamten Finanzsektor, maßgeblich zur Transformation der Realwirtschaft beizutragen +++ Anfang 2021 hat sich deutsche Versicherungswirtschaft öffentlich hierzu bekannt und Ziel ausgegeben, CO2-Fußabdruck ihrer Kapitalanlagen schrittweise zu reduzieren und 2050 Treibhausgas-Neutralität zu erreichen +++

+++ Branche will Kapitalanlagen insgesamt stärker an Nachhaltigkeitskonzepten wie Ausschlusslisten, Best-in-class, Engagement und ESG-Integration ausrichten, viele sind auch in internationalen Initiativen wie den Principles for Responsible Investment (PRI) und der Net-Zero Asset Owner Alliance (AOA) engagiert +++ BaFin begrüßt Anstrengungen, da verantwortungsvolle Kapitalanlage und Anwendung von ESG-Konzepten auch dazu beitragen, Rendite-Risiko-Profil des Anlageportfolios zu verbessern +++

 

 

 

 

 

 

Der Anteil dezidiert nachhaltiger Kapitalanlagen bei deutschen Versicherern ist noch sehr gering.“

 

 

 

 

 

+++ Anteil dezidiert nachhaltiger Kapitalanlagen bei deutschen Versicherern allerdings noch sehr gering +++ Markt für Anleihen, die von den Emittenten als „grün“ gelabelt werden, wächst seit Jahren stark: weltweit rund 2 Bio. US-Dollar Emissionsvolumen von ESG-Anleihen, davon 1,3 Bio. USD grüne Anleihen +++ aber nur 11% der von der BaFin befragten Versicherer investieren in nachhaltige Anleihen – und nur 1% der gesamten Kapitalanlagen +++ häufig mangelt es an geeigneten Anlagemöglichkeiten, Suche und Vergleich verursachen zudem oft hohe Kosten +++

 

+++ EU-Rat und -Parlament beraten derzeit über Vorschlag der EU-Kommission für European Green Bond Standard (EUGBS), Goldstandard für „grüne“ Anleihen, der auch Zertifizierung vorsieht +++ Versicherer als Investoren hätten es leichter, positive Umweltauswirkungen anleihebasierter Anlagen zu ermitteln und grüne Anleihen zu vergleichen +++ zudem könnte Zertifizierung Risiko von Greenwashing entgegenwirken +++

 

+++ darüber hinaus plant EU-Kommission, Finanzierung langfristiger Infrastrukturinvestitionen zu verbessern, und will Bedingungen vereinfachen, unter denen Investitionen in Aktien, auch über Infrastrukturfonds, als „langfristig“ behandelt werden und damit günstigerem Risikofaktor unterliegen können +++

 

+++ BaFin will weitere Anpassungen der Solvenzkapital-Anforderungen nur dann akzeptieren, wenn sie risikobasiert erfolgen und sich das belegen lässt +++ begrüßt, dass EU-Kommission EIOPA im Rahmen des Solvency-II-Reviews beauftragt hat, bis 2023 zu untersuchen, ob Risikoprofil „grüner“ und „brauner“ Anlagen von dem „anderer“ Anlagen abweicht +++

 

 

 

 

 

 

Die Offenlegungspflichten stellen Unternehmen derzeit vor große Herausforderungen.“

 

 

 

 

 

+++ Transparenz auch bei nachhaltigen Investments dient Offenlegungs- und Taxonomie-Verordnung +++ Offenlegungspflichten stellen Unternehmen derzeit vor große Herausforderungen: konkretisierende Technischen Standards fehlen +++ noch im 1. Halbjahr 2022 will EU-Kommission diese in Delegierte Verordnung gießen, die ab 1. Januar 2023 angewendet werden soll +++ bereits seit März 2021 muss BaFin Einhaltung geltender Offenlegungsvorschriften überwachen +++ da es noch keine Standards gibt, orientiert sie sich dabei weiterhin am Text der Verordnung +++ zudem müssen alle großen Versicherer seit Anfang 2022 Auskunft geben, ob und in welchem Maße ihre Kapitalanlagen taxonomiefähig hinsichtlich der Ziele „Klimaschutz“ und „Anpassung an den Klimawandel“ sind +++ Bewertungskriterien zu Art. 8 der Taxonomie-Verordnung hat EU-Kommission Ende 2021 bekanntgegeben +++

 

 

 

 

 

 

Konkretisierungen zu anderen Umweltzielen der Taxonomieverordnung werden folgen, etwa zur Biodiversität.“

 

 

 

 

 

+++ Thema Nachhaltigkeit wird Versicherer und Aufsicht auch in kommenden Jahren intensiv beschäftigen +++ bislang Konzentration auf Klimaschutz und Anpassung an Klimawandel +++ Konkretisierungen zu anderen Umweltzielen der Taxonomieverordnung werden folgen, etwa zur Biodiversität +++ erst vor wenigen Wochen hat Platform on Sustainable Finance der EU-Kommission Bericht veröffentlicht, der als erster Schritt zur geplanten Taxonomieverordnung für sozial nachhaltige Aktivitäten verstanden werden darf +++


Asmussen: Mehr ESG möglich, wenn Kriterien klar und mehr Angebote kommen

 

Jörg Asmussen, geschäftsführendes Präsidiumsmitglied und HGF des GDV:

 

Joerg Asmussen, GDV.

+++als erster Versicherungsverband in Europa GDV Unterstützer der Net-Zero AOA +++ schon bis 2025 wollen Versicherer mindestens in ihren deutschen Liegenschaften klimaneutral arbeiten +++ langfristig werden sie keine gewerblichen und industriellen Risiken mehr ins Portefeuille nehmen, wenn Kunden keine Anstrengungen hin zu nachhaltiger Wirtschaft unternehmen +++

 

+++ Versicherer wollen Kapitalanlagen nachhaltiger gestalten und benötigen dafür viel breiteres Angebot am Markt +++ bisher nur 4% der jährlichen Anleihe-Neuemissionen als Green Bonds emittiert +++ es braucht auch mehr Investitionschancen für grüne Infrastrukturprojekte +++ GDV ist 2021 auch den Principles of Sustainable Insurance (PSI) der UN als „Supporting Institution“ beigetreten +++ PSI-Standard weltweit am bedeutendsten für Integration von Nachhaltigkeitskriterien in Versicherungsgeschäft +++ erster Nachhaltigkeitsbericht der Versicherer liegt vor +++


+++ Klimawandel nur auf globaler Ebene wirksam bekämpfbar, Branche hat Einführung wirksamen CO2-Preises nicht in der Hand +++ 90% der Versicherer erwarten dennoch, Klimaziele zu erfüllen +++ 1/3 achtet schon jetzt auf ESG-Risiken beim Underwriting (bis 2025 wollen 60% darauf achten) +++

 

 

 

 

 

 

82 Prozent der Kapitalanlagen der Versicherer werden nach ESG-Kriterien gemanagt, aber nur ein Prozent in reale Green Bonds investiert.“

 

 

 

 

 

+++ Versicherer sind nach eigener Statistik zu 1,8 Bio. Euro mit Kapitalanlagen investiert, davon 300 Mrd. Euro Neuanlage p.a. +++ illiquide Anlagen optimal für Duration der Lebensversicherer, die prädestiniert für Finanzierungsbeitrag zur Energiewende sind +++ 82% der Kapitalanlagen der Versicherer nach ESG-Kriterien gemanagt, aber nur 1% in reale Green Bonds investiert und 0,3% in Social Bonds +++ „mehr wäre machbar, wenn ESG-Kriterien klar und mehr Finanzierungsgesuche am Markt wären“ +++ Europa erste Weltregion mit nachhaltigen Wirtschaftsregeln und steigender Transparenz durch Taxonomie +++

 

+++ ESG-konforme Anlagen scheinen gutes Renditepotenzial zu haben +++ fehlende Angebote hemmen Voranschreiten +++ Beispiel Windparks: Versicherer finanzieren Stromproduktion nur einer Stadt von der Größe Berlins +++ richtige Losgrößen wären Off-Shore-Windparks statt kleiner Projekte +++ Versicherer unternehmen viel beim E, aber wenig bei S (Taxonomie könnte kommen, ist aber schwer messbar) und G (hier ist in EU keine eigenständige Taxonomie erkennbar) +++

 

Fazit von LEITERbAV

 

Die Versicherungsbranche hat das Thema Nachhaltigkeit für sich selbst im Betrieb, für ihre Kunden und als Investor für die den Umbau der Wirtschaft angenommen. Vieles steckt noch in den Kinderschuhen, zumal begleitende Regulierung aus Brüssel nicht konsistent ist – vor allem fehlende ESG-Kriterien machen sich schmerzhaft bemerkbar und hemmen den nötigen und erwarteten Fortschritt.

 

Der Umgang mit Nachhaltigkeit in der Kapitalanlage der Lebensversicherer als größtem institutionellen Investor wirft immer auch ein – partielles – Schlaglicht auch auf den Teilbereich bAV, der namentlich auf der DVfVW-Tagung kaum vorkam, aber im Geschäftsmodell der LV-Anbieter eine maßgebliche Größe darstellt.

 

Auch wenn sich nicht nur Genese, sondern auch Regulierungen bei LV und EbAV sich teils grundsätzlich, teils im Detail unterscheiden, so steht gerade die industrieeigene bAV vor analogen ESG-Herausforderungen wie die Assekuranz. Auch Betriebsrentner in spe – so darf man annehmen – erwarten zunehmend nicht nur rentierliche Leistungen in einem herausfordernden Zinsumfeld, sondern möglichst nachhaltige Erträge mit gutem Gewissen.

 

Das zur heutigen Headline anregende Kulturstück findet sich hier.

Diskriminierungsfreie Sprache auf LEITERbAV

LEITERbAV bemüht sich um diskriminierungsfreie Sprache (bspw. durch den grundsätzlichen Verzicht auf Anreden wie „Herr“ und „Frau“ auch in Interviews). Dies muss jedoch im Einklang stehen mit der pragmatischen Anforderung der Lesbarkeit als auch der Tradition der althergerbachten Sprache. Gegenwärtig zu beobachtende, oft auf Satzzeichen („Mitarbeiter:innen“) oder Partizipkonstrukionen („Mitarbeitende“) basierende Hilfskonstruktionen, die sämtlich nicht ausgereift erscheinen und dann meist auch nur teilweise durchgehalten werden („Arbeitgeber“), finden entsprechend auf LEITERbAV nicht statt. Grundsätzlich gilt, dass sich durch LEITERbAV alle Geschlechter gleichermaßen angesprochen fühlen sollen und der generische Maskulin aus pragmatischen Gründen genutzt wird, aber als geschlechterübergreifend verstanden werden soll. Auch hier folgt LEITERbAV also seiner übergeordneten Maxime „Form follows Function“, unter der LEITERbAV sein Layout, aber bspw. auch seine Interpunktion oder seinen Schreibstil (insb. „Stakkato“) pflegt. Denn „Form follows Function“ heißt auf Deutsch: "hässlich, aber funktioniert".

© Pascal Bazzazi – LEITERbAV – Die auf LEITERbAV veröffentlichten Inhalte und Werke unterliegen dem deutschen Urheberrecht. Keine Nutzung, Veränderung, Vervielfältigung oder Veröffentlichung (auch auszugsweise, auch in Pressespiegeln) außerhalb der Grenzen des Urheberrechts für eigene oder fremde Zwecke ohne vorherige schriftliche Genehmigung. Die Inhalte einschließlich der über Links gelieferten Inhalte stellen keinerlei Beratung dar, insbesondere keine Rechtsberatung, keine Steuerberatung und keine Anlageberatung. Alle Meinungsäußerungen geben ausschließlich die Meinung des verfassenden Redakteurs, freien Mitarbeiters oder externen Autors wieder.