Die Chemie-Tarifparteien und die R+V Versicherung konnten gestern Vollzug melden: Das bundesweit erste auf einem Flächentarifvertrag basierende Sozialpartnermodell hat alle notwendigen Hürden genommen. Es ist damit das zweite SPM überhaupt. Doch ungeachtet des Erfolges stellen sich nun unmittelbar neue Fragen.
Wenige Tage, nachdem bei Uniper das erste Unternehmens-SPM an den Start gegangen ist, führt die deutsche Chemieindustrie als bundesweit erste Branche ein Sozialpartnermodell für Betriebsrenten ihrer Beschäftigten ein. Die BaFin hat gestern dem ChemiePensionsfonds der R+V die Unbedenklichkeitsbescheinigung erteilt. Diese könne den Angaben der Stakeholder zufolge sofort starten.
Möglich gemacht hat diesen kleinen, aber signifikanten Meilenstein in der bAV (rund fünf Jahre nach der zugrundeliegenden Gesetzgebung des BRSG) eine Tarifvereinbarung der Sozialpartner IGBCE und BAVC, der sich bereits seit einigen Monaten sehr konkret angekündigt hatte.
Als erste profitieren können die Tarifbeschäftigten in den Betrieben der chemischen Industrie, die für ihre Altersvorsorge auf den ChemiePensionsfonds der R+V setzen. Für die bisherigen Berechtigten des ChemiePensionsfonds ändere sich nichts an ihren bestehenden Verträgen und Versorgungen.
Asset Manager R+V
Für eine erfolgreiche Umsetzung ihres Sozialpartnermodells setzen die Chemie-Tarifpartner auf ihren langjährigen bAV-Partner R+V, und das auch als institutionellen Anleger. Investiert werde „in ein ausgewogenes Anlagekonzept, das sich vor allem aus breit gestreuten Aktienindizes (MSCI World, Euro Stoxx 600) sowie Staats- und Unternehmensanleihen zusammensetzt“.
Der Aktienanteil könne dabei – je nach Marktlage – zwischen mindestens 10 und maximal 80% betragen. Eine dynamische Aktienquotensteuerung sorge für ein robustes Portfolio. Dieses liefere stabile Erträge unabhängig vom Zinsumfeld, reduziere Wertschwankungen und bette sich so ideal in das Gesamtkonzept des SPM ein.
Der ChemiePensionsfonds ist kein ganz kleiner – sondern mit mehr als 120.000 Versicherten einer der großen Pensionsfonds in Deutschland: aktuell rund 1,1 Mrd. Euro schwer, jährlichen Beitragseinnahmen circa 90 Mio. Euro. Der ChemiePensionsfonds hatte im April 2002 als bundesweit erster branchenweiter Pensionsfonds seine Zulassung erhalten. Er entstand auf Initiative von IGBCE und BAVC und befindet sich seit Ende 2007 unter dem Dach der R+V – heute als Bestandteil des 2008 gegründeten ChemieVersorgungswerks.
„Chancen Vorfahrt vor den Garantien“
BAVC-Hauptgeschäftsführer Klaus-Peter Stiller kommentiert: „Die Freigabe des SPM Chemie durch die BaFin läutet eine neue Ära in der bAV ein. Wir freuen uns sehr, die reine Beitragszusage als erste Branche in Deutschland anbieten zu können. Dieser Meilenstein macht die zweite Säule sowohl für Unternehmen als auch Beschäftigte attraktiv und zukunftsfest. Mit der Umsetzung starten wir noch in diesem Jahr. Das SPM ist ein wichtiger Schritt für Arbeitgeber und Gewerkschaft, weil wir den Chancen Vorfahrt geben vor den Garantien.“
„Insgesamt Auftrieb für die bAV“
IGBCE-Tarifvorstand Ralf Sikorski dazu: „Mit dem SPM können wir trotz veränderter Rahmenbedingungen attraktive Altersvorsorge auch in der Zukunft für unsere Mitglieder anbieten. Abgesichert durch zusätzliche Sicherungsbeiträge der Arbeitgeber und durch höhere Renditechancen wird die Altersvorsorge zukunftsfest und attraktiv auf neue Beine gestellt. Gleichzeitig kann das Modell der bAV insgesamt viel Aufwind verschaffen und ein Vorreiter für weitere Branchen und Unternehmen werden.“
„Wir freuen uns sehr, dass das Branchen-SPM jetzt startet. Das ist ein wichtiger Meilenstein für die bAV in Deutschland und für die R+V als Anbieter dieses ersten umgesetzten Modells“, betont Claudia Andersch, Vorstandsvorsitzende der R+V Lebensversicherung AG. „Das SPM der Chemie ist zugleich ein Vorbild für andere Branchen. Wir erwarten, dass die Idee des SPM in Deutschland jetzt einen weiteren kräftigen Schub erfährt.“
Fragen bleiben. Spannende.
Der Weg der deutschen chemischen Industrie zu ihrem SPM hatte zuweilen etwas durchmarschartiges an sich: Im Mai 2022 fand das Chemie-SPM den Weg in die Öffentlichkeit. Im Juli waren alle Dokumente fertig, im August und September wurden letzten Anmerkungen der BaFin eingearbeitet und die Fachöffentlichkeit weiter informiert. Man rechnete mit BaFin-Genehmigung „voraussichtlich im Oktober und hofft auf einen Start im November 2022“, hieß es auf einer Fachtagung Ende September. Das Timing stimmte.
Nun also – nach jahrelangem Stillstand und langem Warten auf den Leuchtturm – zwei SPM in Deutschland innerhalb weniger Tage. Spannende Fragen bleiben: Wie werden Unternehmen und Menschen das Modell annehmen? Wie wird die Steuerung durch die Tarifpartner funktionieren? Wie wird man auf Garantien blicken, jetzt wo die Zinsen wieder steigen? Wird man weiter auf Chancen, Real Assets, Vola und Erträge setzen? Oder wieder zurückfallen in die garantierte Flachheit, sobald diese einigermaßen auskömmlich erscheint? Und: Wie wird das Branchen-SPM sich in die bestehende bAV-Landschaft einfügen, gerade in der Chemie? Ergänzend? Bereichernd? Kannibalisierend?