Das Forum für das institutionelle deutsche Pensionswesen

Gestern in Erfurt:

Déjá-vu in Thüringen

Der Paragraf 1a Abs. 1a BetrAVG, einer der berüchtigtsten Intensivtäter des Pensionswesens, musste sich erneut vor Gericht verantworten. Jedoch: Seinem Vorsatz, mithilfe des 15-prozentigen Arbeitgeberzuschusses zur Entgeltumwandlung in deutschen Personalabteilungen Angst und Schrecken zu verbreiten, hat das höchste deutsche Arbeitsgericht einen wichtigen Riegel vorgeschoben. Nicht zum ersten Mal übrigens. Um den Fall zu verstehen, ist eine kleine Zeitreise nötig. Und jemand aus dem Süden war im Osten live dabei.

Von den gesetzlichen Regelungen zur Entgeltumwandlung (§ 1a BetrAVG) einschließlich des Anspruchs auf einen Arbeitgeberzuschuss nach § 1a Abs. 1a BetrAVG kann gemäß § 19 Abs. 1 BetrAVG auch in Tarifverträgen abgewichen werden, die bereits vor Inkrafttreten des Ersten BRSG am 1. Januar 2018 geschlossen wurden.“

Das ist in den Worten des Dritten Senats die Quintessenz seines gestern gefällten Urteils zu der Frage, wie sich „alte“ Arbeitgeberzuschüsse in Bezug zu dem 2018 eingeführten 15prozentigen Arbeitgeberzuschuss zur Entgeltumwandlung verhalten.

Das BAG auf der Erfurter Zitadelle. Foto: Bazzazi.

Wir erinnern uns: Die bewusst einfach gehaltene Regelung sollte eigentlich einen obligatorischen, aber einfachen und verwaltungsarmen Arbeitgeberzuschuss steuern – entpuppte sich wegen der bekannten Verästelung der deutschen bAV schnell als prächtiges Rattenschwanzproblem, welches die Fachleute lange beschäftigte.

Mittlerweile scheint der 15er-Intensivtäter im HR-Alltag der Unternehmen einigermaßen eingehegt zu sein – doch gestern hatte er erneut besagten Termin in Erfurt. Strittig war, ob Arbeitgeberzuschüsse, die jahrelang schon vor dem BRSG I auf Basis von Tarifverträgen gezahlt werden, hier angerechnet werden.

Die Allgemeine Tariföffnungsklausel in § 19 Abs. 1 BetrAVG ( ) lautet jedenfalls:

Von den §§ 1a, 2, 2a Abs. 1, 3 und 4, § 3, mit Ausnahme des § 3 Abs . 2 Satz 3, von den §§ 4, 5, 16, 18a Satz 1, §§ 27 und 28 kann in Tarifverträgen abgewichen werden.“

Kommt Ihnen das bekannt vor?

Zu dem Fall in den Worten des Senats:

Der Kläger ist seit 1982 als Holzmechaniker bei der Beklagten beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet kraft beidseitiger Tarifbindung der seit dem 1. Januar 2009 geltende Tarifvertrag zur Altersversorgung zwischen dem Landesverband Niedersachen und Bremen der Holz und Kunststoff verarbeitenden Industrie e.V. und der IG-Metall vom 9. Dezember 2008 (TV AV) Anwendung. Der Kläger wandelt seit 2019 auf der Grundlage dieses Tarifvertrags monatlich Entgelt um. Der Tarifvertrag gewährt Arbeitnehmern, die umwandeln, einen zusätzlichen Altersvorsorgegrundbetrag in Höhe des 25-fachen des Facharbeiter-Ecklohns.

Der Kläger verlangte von der Beklagten ab 1. Januar 2022 zusätzlich zu seinem umgewandelten Entgelt den Arbeitgeberzuschuss nach § 1a Abs. 1a BetrAVG iHv. 15 vH. Denn: Der TV AV sei keine abweichende Regelung im Sinne von § 19 Abs. 1 BetrAVG. Der Anspruch auf Zahlung eines Zuschusses aus § 1a Abs. 1a BetrAVG könne gemäß § 19 Abs. 1 BetrAVG nicht durch eine tarifvertragliche Regelung zur Entgeltumwandlung ausgeschlossen werden, die bereits vor Inkrafttreten der Regelung bestanden habe. Die Vorinstanzen, zuletzt das LAG Niedersachsen mit Urteil 15 Sa 223/23 vom 16. Oktober 2023, hatten die Klage abgewiesen.

Déjà vu in Erfurt – mit den gleichen Parteien?

Bertram Zwanziger, Dritter Senat. Foto: BAG.

Übrigens: Der Fall scheint in Zusammenhang zu stehen mit den Fällen 3 AZR 361/21 und 3 AZR 362/21, welche der Dritte Senat im März 2021 – damals noch unter Bertram Zwanziger – zu entscheiden hatte. Damals schon hatte der Senat klar gemacht, dass wegen der Übergangsregelung Arbeitnehmer bei Vorliegen eines entsprechenden älteren Tarifvertrages (desselben Vertrages, um den es auch diesmal ging) bis Ende 2021 keinen weiteren Arbeitgeberzuschuss verlangen können. Damals jedoch hatte der Senat die Frage der Wirkung älterer Tarifverträge abseits der Übergangsregelung leider ausgespart.

Da der gestrige Kläger nun exakt ab dem 1. Januar 2022 einen Zuschuss forderte und der Arbeitgeber sich auch dem nicht beugen wollte, es sich um den gleichen Tarifvertrag handelt und die Vorinstanz ebenfalls Niedersachsen war, liegt nahe, dass es sich um die gleichen Parteien handelt. Und siehe da – eine Beobachterin (s.u.) bestätigte just dies.

Chancenlos in Thüringen

Stephanie Rachor, BAG. Foto: BAG.

Weiter mit dem gestrigen Fall: Die Revision des Klägers bleibt vor dem Dritten Senat unter Stephanie Rachor erfolglos. Die Auslegung von § 19 Abs. 1 BetrAVG ergibt, so das BAG, dass von § 1a BetrAVG abweichende Regelungen auch in vor dem Inkrafttreten des Ersten BRSG geschlossenen Tarifverträgen enthalten sein können. Mit den Regelungen des TV AV liegt eine solche von § 1a BetrAVG abweichende Regelung im Sinne des § 19 Abs. 1 BetrAVG vor.

Der Dritte Senat hat am selben Tag in zwei weiteren Parallelverfahren – 3 AZR 286/23 – und – 3 AZR 287/23 – zum selben Tarifvertrag identisch entschieden.

Übrigens: Der Senat erhielt gestern Verstärkung durch eine ehrenamtliche Richterin, die man weniger aus Erfurt kennt, sondern eher aus Berlin – Kerstin Schminke aus der Geschäftsführung der Metallrente.

Muss schon Spaß machen

Henriette Meissner war gestern in die Thüringer Landeshauptstadt gereist, um die Verhandlung vor Ort zu verfolgen.

Die bAV-Chefin der Stuttgarter hält es für eine gute Nachricht, dass das BAG die Regelungen in „alten“ Tarifverträgen, die vor dem Inkrafttreten des § 1a (1a) BetrAVG abgeschlossen hat, aufrecht erhalten hat – und zwar für für Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Denn: „Arbeitgeber müssen auf Regelungen vertrauen können, sonst macht ihnen die bAV keinen Spaß mehr – und das wäre wiederum nicht gut für Arbeitnehmer, für die eine bAV ein wichtiger Teil der Altersversorgung ist“, so Meissner gegenüber der Redaktion.

Henriette Meissner, Stuttgarter. Foto: Sandra Wildemann.

Die Stuttgarter Fachfrau – die vor Ort beobachtete, dass es sich in der Tat um den selben Kläger wie 2021 gehandelt hat – zeigte sich beeindruckt, wie tief die Richter des Dritten Senats in die Fragen eingestiegen sind und wie sehr sie sich der Tragweite dieses Urteils offenbar bewusst waren. Meissner hofft jedenfalls, dass die Fragen, die die Vorsitzende Richterin, aufgeworfen hat, im Urteil selbst vertieft und endgültig beantwortet werden.

In diesem Sinne dokumentiert PENSIONSINDUSTRIES schon heute einige offeneAppetithäppchen aus dem Termin, die Meissner für die arbeitsrechtlichen Feinschmecker unter der Leserschaft zusammenfasst:

  • Die Gesetzesbegründung zum §1a (1a) BetrAVG geht außergewöhnlich explizit auf die Gültigkeit bestehender Tarifverträge ein. Welches Gewicht wird der Dritte Senat dem beimessen? Welche mögliche Auswirkungen hat das ggf. für künftige Gesetzgebungsverfahren?

  • Es wurde in der Verhandlung diskutiert, ob nicht eine objektive Betrachtung des § 19 (1) BetrAVG einer subjektiven Betrachtung vorzuziehen sei. Fließt dies rechtsbildend in das Urteil ein?

  • Es wurde der gesamte § 1a BetrAVG, von dem nach § 19 (1) BetrAVG abgewichen werden kann, in den Blick genommen, nicht nur die Regelung in Abs. 1a. Welche Bedeutung hat das für die Auslegung? Auch die Pressemitteilung adressiert den § 1a BetrAVG insgesamt.

  • Es wurde die Frage aufgeworfen, wann eine Abweichung durch Tarifvertrag wirksam ist und wie angerechnet werden kann. Im vorliegenden Fall wurde die wirksame Abweichung bejaht. Es bleibt spannend, ob in der Urteilsbegründung – vielleicht auch als Obiter Dictum – mehr dazu gesagt wird, welche abweichenden Regelungen zulässig sind. Das könnte von Bedeutung sein gerade für Tarifverträge, die nur die Entgeltumwandlung ohne Zuschuss regeln.

Nachtrag (I): der Kirchen-Fall 3 179/23

Am gleichen Tag hat der Dritte Senat in Erfurt auch den Fall 3 AZR 3 179/23 verhandelt. Strittig waren Ansprüche aus einer kirchlichen Altersversorgung (Urteil der Vorinstanz hier). Ergebnis: Die Revision der klagenden Betriebsrentnerin gegen das Urteil des Sächsischen LAG vom 3. Mai 2023 – 3 Sa 287/21 – wurde in Erfurt zurückgewiesen.

Nachtrag II: Lustiger Rentner vom Rhein mit viel Zeit

Schließlich stand noch der Fall 3 AZR 193/23 zu dem Anspruch eines Betriebsrentners auf eine Corona-Sonderzahlung auf der Agenda des Dritten Senats.

Der hier in der Vorinstanz schon geschilderte Fall zu der Corona-Sonderzahlung hatte wohl vor allem Entertainment-Charakter: Ein 1952 geborener Kläger war von 1990 bis Mitte 2016 bei einer Ärztekammer beschäftigt, seitdem verrentet, bezog zuletzt allein von der Kammer eine monatliche Betriebsrente von über 5.700 Euro (zzgl. einer Rente eines berufsständischen Versorgungswerkes) und hätte gern auch die gem. Ende 2021 von den Tarifvertragsparteien vereinbarte „TV Corona-Sonderzahlung“ von 1.300 Euro. Und wieviel Verständnis zeigten ArbG und LAG Düsseldorf für sein Anliegen? Richtig: gar keins.

Irgendwann hat wohl auch der lustige Rheinländer die Absurdität seines Vorhabens begriffen, jedenfalls hat er laut Aussage des BAG die Revision am 2. Juli zurückgenommen.

Das zur heutigen Headline anregende Kulturstück findet sich hier.

Diskriminierungsfreie Sprache auf LEITERbAV

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